Mihály Biró (1886, Bia bei Budapest – 1948, Budapest) habe “die aufsehenerregendsten und stärksten politischen Plakate, die je gemacht wurden, geschaffen”1 – so urteilte 1932 die prominente deutsche Fachzeitschrift “Gebrauchsgraphik” über das Werk des ungarisch-österreichischen Grafikers. Wie innovativ Biró in seinem künstlerischen Schaffen war, zeigt ein Blick auf die Geschichte der politischen Plakatwerbung.
Die ersten politischen Plakate entstanden in der Aufbruchsstimmung der Französischen Revolution,2 und für die meisten europäischen Länder ist ein stärkeres Auftreten des Plakates als Mittel der Reklame im Zeitraum von 1890 bis 1895 anzusetzen.3 Der früheste Boom an illustrierten politischen Plakaten begann allerdings erst mit dem Ersten Weltkrieg.4 Mihály Biró gehörte zu den ersten, die an dieser Entwicklung aktiv mitwirkten, denn bereits seit 1910 beschäftigte er sich mit politischer Plakatkunst. Die Bedeutung, die er bald in dem Metier erlangt hatte, wurde bereits von seinen Zeitgenossen gebührend gewürdigt: Schon 1915 lobte Ottokar Mascha in dem zum Standardwerk gewordenen Buch “Österreichische Plakatkunst” die “große Originalität der Erfindung” und die “sorgfältige Ausführung der Plakate”.5
Birós frühe, unpolitische Arbeiten waren stark vom Jugendstil geprägt. Diese Blätter waren noch weit vom typischen “Biró-Stil” entfernt und elegant, flächig-ornamental gehalten. Ein herausragendes Beispiel dieser frühen Arbeiten ist die Werbung für den Budapester Tiergarten, die Biró für einen Wettbewerb im Jahr 1912 entworfen hatte, die aber erst 1914 gedruckt wurde. Es ist ein raffiniert gestaltetes Blatt, das zeigt, wie gut es der Künstler verstand, mit sparsamsten grafischen Mitteln ein eindrucksvolles Plakat zu gestalten. Diese Arbeit wird heute zu den wichtigsten Beispielen der ornamentalen Plakatkunst der Jahrhundertwende gerechnet.6
Schon diese frühen Affichen zeigen jenen kraftvollen Strich in Verbindung mit dem Bemühen um Reduktion und Vereinfachung – Merkmale, die für die Zeichenkunst des Grafikers typisch werden sollten. Seine ersten politischen Plakate waren zwar noch von einer scharfen Trennung von Bild und Text geprägt, eine aufsehenerregende Wirkung war ihnen jedoch sicher. Die Erreichung eines optimalen Effektes war für Biró das einzige Qualitätskriterium für ein gelungenes Plakat. Nicht für die Minderheit der kunstverständigen Fachwelt zeichnete er seine Bilder, sondern für ein möglichst breites Publikum, wobei er bisweilen auch triviale Elemente in seine Plakate aufnahm. Seine Tätigkeit begriff er als politische Öffentlichkeitsarbeit, es scheint, dass seine Werke eher einer politischen und psychologischen als einer künstlerischen Kritik hätten standhalten sollen. Er war Funktionalist, aber nicht als “Zyniker” oder “geheimer Verführer”,7 sondern weil er engagiert für die Verbreitung seiner Überzeugung eintreten wollte.
Will man Mihály Biró nach kunsthistorischen Kriterien einordnen, so ist sicher, dass er stark vom Expressionismus beeinflusst war. Die Vertreter dieser Richtung zeigten im besonderen Maße gesellschaftliches und soziales Engagement: diese ausdrucksstarke Kunst, von humanistischen Idealen durchdrungen, war offenbar die geeignete Ausdrucksform für einen sozial und politisch engagierten Künstler.8 Birós Stil ist kraftvoll und ausdrucksstark, sein Pathos ist die Verbildlichung der rhetorischen Emphase der Politiker jener Zeit. Das Werk des Grafikers zeigt den Expressionismus nicht in seiner extremen, avantgardistischen Ausprägung, sondern bietet ihn im Hinblick auf die Adressaten, die große Masse der arbeitenden Bevölkerung, in einer gemilderten, populären Ausformung dar. Bereits 1915 sprach Ottokar Mascha von der “großen Kraft des Ausdruckes dieses bedeutenden Künstlers”.9 Biró selbst schrieb in einem theoretischen Text in der Zeitschrift “Gebrauchsgraphik”: “Selbstverständlich werden Plakate mit wuchtigen, blitzartig hingeworfenen Strichen eine viel größere Wirkung auf die Massen haben als schön ausgeführte und sogenannte sachliche Plakate”.10
Der Konstruktivismus, die “Neue Sachlichkeit” der 1920er und 1930er Jahre blieben Biró fremd, ja er sah in diesen Strömungen verhängnisvolle Fehlentwicklungen, was ihm seinerseits bald den Vorwurf eintrug, einem veralteten Stil nachzuhängen. Doch er beharrte auf seinem Standpunkt. In dem oben erwähnten Artikel meinte er: “Die politischen Plakate müssen meiner Meinung nach unbedingt von der schweren Last der sogenannten Sachlichkeit befreit werden. Die sachlichen Plakate haben da nichts zu suchen. Dieser Begriff hemmt jeden Schwung, jede Wucht, mit welcher der Künstler durch sein Plakat auf die Masse einhämmern sollte.”
Sucht man mögliche künstlerische Vorbilder für Mihály Biró, so findet man in den Jahren von 1910 bis 1912, in denen er sich bereits häufig politischen und sozialen Themen widmete, in diesem Bereich kaum jemanden. Was jedoch die inhaltliche Ausrichtung seiner Arbeiten betrifft, so ist er sehr wohl in eine Tradition kritischer, politisch und sozial bewusster Grafik zu stellen. Vornehmlich aus Frankreich, dem Ursprungsland der Plakatkunst, stammt eine Reihe von Künstlern, wie Honoré Daumier, Jean Francois Millet, Jules Grandjouan und vor allem Alexandre Théophile Steinlen, der ein Pionier sowohl der Plakatkunst als auch der sozialen Grafik war.11
Im selben Jahr, in dem Biró seine Arbeit für den Tiergarten fertig gestellt hatte, also 1912, erschien auch das bald so berühmt gewordene Népszava-Plakat, das für das Zentralorgan der ungarischen Sozialdemokratie warb. Diese Affiche ist das wohl bekannteste Werk des Künstlers geworden. Darin zeigt sich bereits musterhaft der für Biró typische Stil, der später von vielen anderen Grafikern kopiert wurde. Aus einem vergrößerten Werbeflugblatt der Zeitung “Népszava” tritt dem Betrachter ein riesiger, nackter, roter Mann entgegen, der mit einem großen Hammer zum wuchtigen Schlag ausholt. Der kraftvolle, kämpferische Stil der Zeitung wurde dabei bildlich optimal umgesetzt. Der Mann trägt keine individuellen Züge, er verkörpert die Energie der revolutionären Masse. Der marxistischen Perspektive gemäß sollte keine Einzelpersönlichkeit auf einem Plakat porträtiert werden; der rote Mann ist eine der Möglichkeiten, das Proletariat in seiner Ganzheit symbolisch darzustellen.
Die Figur des “roten Riesen” hatte durchschlagenden Erfolg, sie wurde auch – um in der Sprache der Werbung zu bleiben – zu einer Art Markenzeichen für Mihály Biró selbst. Natürlich ist die Symbolgestalt des Mannes mit dem Hammer keine Erfindung des Grafikers. Da mit dem Plakat ein breites Publikum angesprochen werden sollte, musste man auch eine leicht verständliche Bildsprache wählen: Der Symbolgehalt dieser Figur war schon damals auf den ersten Blick verständlich. “Starke” Männer waren um diese Zeit ebenso wie Frauenfiguren im Bereich der Wirtschaftswerbung bereits feststehende Reklametypen. Um Beispiele aus dem österreichischen Raum zu nehmen, machte hier etwa Herkules für eine nach ihm benannte widerstandsfähige Wolle Werbung,12 und ein jugendlicher, funkensprühender Athlet trat als Sinnbild der modernen Elektrizität auf.13 So wie diese Gestalten der kommerziellen Werbung hat auch der rote Riese seine Vorbilder in der antiken Mythologie: er ist eine Art Mischung aus Herkules und dem schmiedenden Gott Vulcanus.14 Dabei muss man sich vor Augen halten, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Welt der Antike im Bewusstsein der Menschen noch stärker verankert war als später.
Um 1882 erschien in Wien ein für den Historismus typisches Werk unter dem Titel “Allegorien und Embleme”, das eine Art Musterbuch für bildende Künstler war. Das Symbolbild für den Arbeiterstand stellt darin einen kräftigen Schmied dar, der den Hammer zum Schlag erhoben hat.15 Um 1900 warb die “Berndorfer Metall-Waren-Fabrik” von Arthur Krupp mit einem von Heinrich Lefler gestalteten Inserat, das unter dem Motto “Ars et labor” als Sinnbild der Arbeit einen Mann mit einem Hammer zeigt.16 Auch andere Beispiele aus der Werbung für Industrieunternehmen verbildlichen die Bedeutung der jeweiligen Firma durch ein ähnliches Sujet.17 Es zeigt sich, dass der hammerschwingende Arbeiter ursprünglich noch kein eindeutig klassenkämpferisches Symbol war, sondern eine Verkörperung des Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts.
Aus der bekannten, allgemein verständlichen Verbildlichung der Arbeit hat also Mihály Biró in seiner dynamischen Gestaltung ein kämpferisches, revolutionäres Signal gemacht, und das in einer derart effektvollen Weise, dass das Plakat für Jahrzehnte zum Signet der ungarischen Sozialdemokratischen Partei wurde. Die Figur wurde von Biró mehrmals für die Plakate der Sozialdemokraten verwendet, und zwar in den Jahren 1913, 1914, 1918 und 1919. Ein Zeichen dafür, wie lange sich dieses Parteisymbol im Bewusstsein der Menschen gehalten hat, ist der Umstand, dass die ungarische Sozialdemokratische Partei nach dem Krieg wieder mit dem Hammermann-Plakat von Biró warb. Auf einem der sozialdemokratischen Plakate aus dem Jahr 1947 bewundern ein Arbeiter, ein Bauer und ein Intellektueller eine Affiche mit dem roten Mann von Biró.18
Auf einem anderen Wahlplakat dieses Jahres sieht man eine Hand bei der Stimmabgabe. Dabei wird ein Stimmzettel, auf dem groß der rote Riese abgebildet ist, in die Urne geworfen.19 Welch großen Stellenwert auch die politischen Gegner der Propaganda der Sozialdemokratie zumaßen, beweist der Umstand, dass recht bald nach der Niederlage der Räterepublik zwei Gegendarstellungen zum roten Mann auf den Anschlagflächen auftauchten.
Biró selbst hat die Figur auch in anderen grafischen Versionen, in anderen Umgebungen und Tätigkeiten eingesetzt. Der riesige Mann wurde das Hauptmotiv im Werk des Grafikers: ohne Hammer und mit Jakobinermütze ist er ein allgemein revolutionär-republikanisches Symbol, mit blauer Arbeitshose und mit Schürze ein Sinnbild der österreichischen Sozialdemokratie; aber auch ein Völker verbindender Friedensstifter und ein Schutzherr der Notleidenden und Kranken kann er sein. Der rote Riese wird damit zur Verkörperung des Guten an sich – allerdings gemäß den Moralbegriffen des sozialdemokratischen Weltbildes.
Die Aktionsweisen des “Super-Proletariers” sind einigen wenigen Handlungsschemen zuzuordnen: Es gibt den aggressiven Riesen, der schlagend, stechend – einmal auch die österreichisch-ungarische Monarchie einsargend – gegen Unterdrückung in jeglicher Form auftritt. Ein ebenso aktiver Typ ist der auskehrende, ausmistende rote Mann, der den so zu sagen Abfallhaufen der Monarchie wegputzt. Dieses Motiv wurde auch in anderen Ländern in der politischen Werbung immer wieder aufgenommen. 1920 erschien in Russland ein Plakat, auf dem Lenin selbst die Weltkugel vom Schmutz der Reaktion säubert.20 Auch in Österreich wurde das Motiv verwendet, nachdem es Biró auch hier mit einem Wahlplakat eingeführt hatte, und sogar von der schwedischen Sozialdemokratischen Partei ist aus dem Jahr 1930 ein ähnliches Sujet erhalten.21
Neben dem säubernden Riesen trifft man bei Biró auch die Gestalt des Mannes, der ein Parlamentsgebäude oder einen kleinen katholischen Geistlichen rot anmalt. Außerdem gibt es aber auch den leidenden Helden, den “Schmerzensmann”: der Riese ist von der “Reaktion” gefesselt, angekettet oder eingekerkert worden. Doch hat er entweder die Ketten gesprengt oder macht gerade Anstalten, sich aus eigener Kraft zu befreien.
Die Beispiele für den aufbauenden, Länder verbindenden, schützenden Riesen gehen inhaltlich vom Bereich der Politik in die Wirtschaftswerbung über.
Ein besonders eindrucksvoller Teil dieses Motivfeldes ist die gewaltige Faust des roten Riesen. In einem Plakat aus dem Jahr 1912 erhebt sie sich mahnend und drohend aus dem Industriegebiet, während sie 1919 als Sinnbild der ungarischen Räterepublik rächend auf die internationalen Vertreter bei den Friedensverhandlungen in Trianon niederfährt. Wie aufsehenerregend die Bilder in ihrer Zeit gewesen sein mussten, beweisen die Memoiren des bekannten Filmregisseurs Geza von Cziffra, in denen er erzählt, dass Mihály Biró in Budapester Künstlerkreisen den Spitznamen “Dr. Faust” gehabt hätte, weil er der “Schöpfer der besten zusammengeballten Fäuste”22 war.
Auch dieses Motiv wurde von anderen Grafikern in ähnlicher Form aufgenommen, ob bewusst oder unbewusst ist natürlich nicht mehr festzustellen. So gibt es – um hier nur einige wenige Beispiele anzuführen – ein sozialdemokratisches Plakat von Victor Slama aus dem Wien des Jahres 1927, das eine zupackende rote Faust zeigt, als Sinnbild für das Zuschlagen des Roten Wien gegen ungebührlichen Luxus.23 Die zermalmende Faust wurde auch von einem nationalsozialistischen Grafiker 1940 als Bildinhalt auf einem Plakat verwendet, das sich gegen die feindlichen Mächte richtete.24 Diese “Faust” ähnelt in der Bildkomposition frappant dem Werk von Mihály Biró.
Viele Beispiele aus Birós Schaffen zeigen, dass der Grafiker in seinen Bildprogrammen sehr geschickt auf die Welt des Mythos und der Religion zurückgriff. Er verstand es dabei, die tradierten Vorstellungen neu zu interpretieren, also mit Bekanntem Unbekanntes vorzubringen: Wie bereits erwähnt, schließt der rote Riese an die vom Historismus geprägten Schaugewohnheiten des 19. Jahrhunderts an und kann seine Herkunft aus der antiken Mythologie nicht verleugnen. Biró hat aber auch bisweilen bewusst auf die Bildmetaphorik der Griechen und Römer angespielt. In einer Affiche aus dem Ersten Weltkrieg ließ er Kriegsgott Mars mit den Armeen spielen, Merkur, der Gott der Kaufleute, warb für die Budapester Messe. Der angekettete Mann erinnert an Prometheus – angesichts der Plakate mit dem gefesselten Riesen und den Zwergen (deren Kleinheit ihre reaktionäre Haltung ausdrücken soll) fällt einem allerdings auch Swifts Roman “Gullivers Reisen” ein.
Aber auch bei der christlichen Ikonografie hat Biró deutliche Anleihen gemacht: Der rote Riese wird da etwa zum Schutzengel, der ein Kind über eine hohe Brücke geleitet. Auf einem österreichischen Wahlplakat wird Christus selbst dargestellt, wie er auf eine Kutsche deutet, in der wohlbeleibte katholische Geistliche sitzen, und sagt: “So habe ich das Christentum nicht gemeint.” Obwohl das Plakat nicht religionsfeindlich gedacht war, sondern einzig und allein kritisch gegenüber der Institution der Kirche sein sollte, wurde das Bild von der Christlichsozialen Partei als “Plakat-Blasphemie” bezeichnet und die Gegner als “sozialdemokratische Christushasser” gebrandmarkt,25 “die sogar die Gestalt des göttlichen Heilands für ihre Wahlagitation missbrauchten”.26 Ein anderes Plakat für einen Arbeiterinvaliden- und -pensionsverein aus den dreißiger Jahren nimmt ebenfalls deutlich Elemente der christlichen Ikonografie auf: Hier wird die bekannte Bibelstelle, in der es heißt “Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig beladen seid” (Matthäus 11,28), visualisiert. Der rote Riese wird zum Erlöser der Menschheit.
Es zeigt sich dabei als allgemeiner Aspekt, dass propagandistisch ausgerichtete Zweckkunst – eigentlich keine ästhetischen Zwecke verfolgend – an die Symbolhaftigkeit kultischer Malerei anschließt – nicht von ungefähr spricht man vom “Proletkult” des sozialistischen Realismus. Wie etwa in ägyptischen Darstellungen oder auch in der christlichen Kunst des Mittelalters die Größe einer dargestellten Person oftmals ihre Bedeutung ausdrückt, so ist diese Gestaltungsmöglichkeit ein wesentliches Element in der Bildsprache von Mihály Biró geworden: große Personen sind entweder besonders gut – wie der rote Mann – oder besonders böse – wie der große, grimmige Tod, auf jeden Fall aber bedeutungsvoll. In der Darstellung dieses Todes ging Biró mit der Zeichnung des “Sensenmannes”, des “Schnitters Tod”, an sich traditionelle Wege. Eine originelle Variante dazu bietet ein Plakat, “das als moderne Steigerung der Totentänze Holbeins und Rethels den Tod als Artilleristen darstellt”.27 Die Masse des Volkes wird dabei als Kanonenfutter missbraucht. Diese Arbeit aus dem Jahr 1912 ist nicht nur eines der ersten Antikriegsplakate, sondern eines der bedeutendsten Beispiele aus diesem Genre überhaupt geworden.
Die anonyme, leidende Masse ist auch ein Motiv eines österreichischen Nationalratswahlplakates aus dem Jahr 1923, das gegen die sogenannte “Genfer Sanierung” gerichtet war. In einem aufwendig geführten Propagandakrieg versuchte die Sozialdemokratie in immer neuen Schreckensvisionen zu zeigen, dass Österreich zum Nutzen weniger “Kapitalisten” und auf Kosten des ganzen arbeitenden Volkes “saniert” werden sollte. Ein Bericht der “Arbeiter-Zeitung” von damals erklärt, dass in dem Plakat “auf die furchtbaren Götterwagen des indischen Mythos, die unter ihren Rädern die Menschen zermalmen”, angespielt worden sei.28
In der großen Zahl von Reklamezeichnungen, die Biró für die Wirtschaft geschaffen hat, griff er auch Bildmotive seiner Politwerbung auf. Hier wird jedoch spürbar, dass dem Künstler die innere Motivation, die er bei seinen politischen Arbeiten zweifellos hatte, abging. Auf vielen dieser Plakate ist ebenfalls der riesige “Proletarier” die Hauptfigur, wobei es vor allem Werbung für Waren war, deren mögliche Käufer meist dem Proletariat entstammten. Diese Beispiele dokumentieren das bemerkenswerte Wechselspiel von Wirtschaftswerbung und Parteipropaganda.29
Ein formal wie werbemäßig sehr origineller Teil seiner Kommerzarbeit sind jene Plakate, in denen sich Biró mit der Verbindung von Bild und Text auseinandersetzte – seit jeher ein entscheidendes Qualitätskriterium der Gebrauchsgrafik. Meist hat er dabei versucht, den Schriftzug des Firmen oder Produktnamens dem Betrachter in witziger Weise einzuprägen. So bildet zum Beispiel der Name des Toilettenartikelerzeugers MEM das Gerüst für das Riesenrad, eines der berühmtesten Wahrzeichen Wiens. Aus den Buchstaben des Markennamens “Humanic” baute der Grafiker eine ganze Schuhfabrik, “Modiano” wurde zu einer Moschee, das T aus “Tözsdei Kurier” (Börsenkurier) bildet eine Waage, die über Glück und Unglück im Börsenspiel entscheidet. Für das Wirtschaftsjournal “Der Warenmarkt” machte er die Initiale W zu einer Straße, auf der reger Handelsverkehr herrscht, im Filmplakat “Iwan der Schreckliche” wird der Schriftblock “Iwan” zur Kerkermauer, an der die Gefangenen angekettet sind.30 Auch die optische Gestaltung von Schriften selbst gehörte zum grafischen Betätigungsfeld von Biró, so hat er unter anderem den Zeitungskopf für die Wiener Theaterzeitung “Die Bühne” entworfen.
Ein Charakteristikum vieler seiner Plakate ist der Zug in die perspektivische Tiefe, alle seine Figuren sind plastisch modelliert. Das ist insofern bemerkenswert, als ja in den 1920er und 1930er Jahren viele “graphic designer” ihre Arbeiten immer flächiger anlegten. Biró hat seine ursprüngliche künstlerische Ausbildung als Kleinplastiker erfahren, man könnte ihn mit seinen grafischen Arbeiten – etwas überspitzt – auch als den Plastiker unter den Plakatkünstlern bezeichnen.
Seine eigentliche Bedeutung hat Mihály Biró als politischer Propagandist und engagierter Künstler erlangt, er war “Gebrauchsgrafiker” im buchstäblichen Sinne des Wortes, seine Plakate sollten “gebraucht” werden, sollten möglichst viele Leute ansprechen, sie beeinflussen und auf sie einwirken. Unter diesem Gesichtspunkt hat Biró – auch international gesehen – in der optischen Bewältigung politischer Propaganda Vorbildliches geleistet. Viele Grafiker haben in der Folge entscheidende Elemente der von ihm erarbeiteten Bildsprache in ihre Plakate aufgenommen. Wie nur wenige andere hat Mihály Biró die Plakatkunst nachhaltig beeinflusst.
Aktualisierte und überarbeitete Fassung des 1986 erstmals erschienenen Artikels “Zur Bildsprache in den Plakaten von Mihály Biró”, in: Denscher, Bernhard – Helge Zoitl (Hrsg.): Biró Mihály 1886–1948. Plakátok, Plakate, Budapest – Wien 1986, S. 17–30.
1 | Gebrauchsgraphik 1932/7, S. 64. |
2 | Gallo, Max: Geschichte der Plakate, Herrsching 1975; Kämpfer, Frank: “Der rote Keil”. Das politische Plakat, Theorie und Geschichte, Berlin 1985, S. 17 f. |
3 | Vgl. dazu: Das frühe Plakat in Europa und den USA. Ein Bestandskatalog. 3 Bde, Berlin 1973-1980. |
4 | Gourevitch, Jean-Paul: L´imagerie politique, Paris 1980, S. 2 ff. |
5 | Mascha, Ottokar: Österreichische Plakatkunst, Wien 1915, S. 120. |
6 | Kossatz, Horst Herbert: Ornamentale Plakatkunst. Wiener Jugendstil 1897–1914, Salzburg 1970, Tafel 34; Horn, Emil: Mihály Biró, Hannover 1996 (=Reihe Internationaler Plakatkünstler 1). |
7 | Vgl.: Packard, Vance: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewußten in Jedermann, Düsseldorf 1968. |
8 | Sotriffer, Kristian: Expressionismus und Fauvismus, Wien – München 1971, S. 65 ff.; Willett, John: Expressionismus, München 1970, S. 24 ff. |
9 | Siehe Anm. 5. |
10 | Siehe Anm. 1; vgl. auch: Grohnert, René: Mihály Birós schlagkräftige Plakate, in: Neue Werbung 1986/4, S. 38 ff. |
11 | Knauf, Erich: Empörung und Gestaltung. Künstlerprofile von Daumier bis Kollwitz, Berlin 1928; Jules Grandjouan. Créateur de l´affiche politique illustrée en France, Paris 2001; Bargiel, Réjane – Christophe Zagrodzki: Steinlen affichiste. Catalogue raisonné, Lausanne 1986. |
12 | Denscher, Bernhard: Kunst & Kommerz. Zur Geschichte der Wirtschaftswerbung in Österreich, Wien 1985, S. 34. |
13 | Denscher, Bernhard (Red.):Tagebuch der Straße. Geschichte in Plakaten. Hrsg. von der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 1981, S. 83. |
14 | Hunger, Herbert: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Wien 1953, S. 355 f; Gottschalk, Herbert: Lexikon der Mythologie der europäischen Völker, Berlin 1973, S. 33 ff., S. 395. |
15 | Gerlach, Martin: Allegorien und Embleme, 2 Bde, Wien 1882 ff., 2.Bd., Nr. 100. |
16 | Unter anderem abgebildet in: Wiener Bilder 1900/ 1, S. 15. |
17 | Vgl. etwa die deutsche Fachzeitschrift “Motor”, insbesondere 1920; März/April, S. 24, S. 113. |
18 | Szánto, Tibor: A magyar plakat, Budapest 1986, S. 123. |
19 | Ebenda, S. 126. |
20 | Kämpfer (Anm.2), S. 117. |
21 | Affischernas Kamp, Stockholm 1979, S. 43. |
22 | Cziffra, Géza von: Immer waren es die Frauen …, Bergisch Gladbach 1978, S. 85 f. |
23 | Vgl. Kämpfer (Anm. 2), S. 122 f.; Politische Plakate der Weimarer Republik, 1918–1933, Ausstellungskatalog, Darmstadt 1980, S. 85; Tagebuch (Anm. 13), S. 179; Plakatausstellung Victor Th. Slama, Wien 1975, Nr. 97, 114. |
24 | Tagebuch (Anm. 13), S. 242. |
25 | Reichspost, 14. 10. 1920, S. 4. |
26 | Reichspost, 13. 10. 1920, S. 8; Vgl. auch: Reichspost: 30. 9. 1920, S. 4. |
27 | Siehe Anm. 5 |
28 | Arbeiter-Zeitung, 13. 10. 1923, S. 3; Tagebuch (Anm. 13), S.156 f. |
29 | Denscher (Anm. 12), S. 81; Horn, Emil: Politische Plakate: Mihály Biró, in: Plakatjournal 1995/2, S. 3 ff. |
30 | Denscher, Bernhard: Biró Mihály Becsi Plakátjai (Mihály Birós Wiener Plakate), in: A magyar grafika külföldön. Kiállitas a magyanemzeti galéria grafikai gyüjteménye alapján, Budapest 1983, S.11 ff. Auf Deutsch erschienen: Die Wiener Plakate von Mihály Biró, in: John, Michael – Alfred Lichtblau (Hrsg.): Schmelztiegel Wien, Wien 1990, S. 428f. |