„Als man anfing, das geistige Leben in die Welt der Plakate zu verbannen, habe ich vor Planken und Annoncentafeln kaum eine Lernstunde versäumt. Und lange ehe ich das Wesen des Plakats als die Empfehlung einer Ware erkannte, empfand ich es als eine Warnung vor dem Leben.“1 Der Medienanalytiker Karl Kraus war einer der ersten, die sich ernsthaft mit dem neu auftretenden Massenphänomen Plakat auseinandersetzten. In seinem Essay „Die Welt der Plakate“ aus dem Jahr 1909 beleuchtete er den für genaue Beobachter bereits damals erkennbaren umfassenden Anspruch moderner Werbung.
Ankündigungen auf Maueranschlägen hatte es in Österreich, so wie in vielen anderen Ländern, bereits im 18. Jahrhundert gegeben, doch im Zuge des Aufkommens industrieller Massenproduktion im 19. Jahrhundert verstärkte sich auch der Bedarf an Massenkommunikationsmitteln. Eine produktionsmäßig bedingte weitere Dynamisierung und Beschleunigung der Gesellschaft machte das moderne Plakat zu einem „schnelleren Medium“. Das heißt, die Botschaft des Plakates musste im Zuge der Erhöhung des Lebenstempos der Menschen nun in kürzerer Zeit entschlüsselt werden, was konsequenterweise zu einem Zurückdrängen des Text- und einer Stärkung des Bildanteiles führte.
Früh erkannte die Avantgarde diese neuen Betätigungsfelder für bildende Künstler, was sich etwa in den Plakaten der Wiener Secession von Gustav Klimt, Kolo Moser, Ferdinand Hodler oder Egon Schiele eindrucksvoll zeigt. In „Ver sacrum“, der Zeitschrift der Secessionisten, schrieb der Kunstkritiker Franz Servaes 1898 zum Thema „Künstlerlithographien“: „Was sind unsere modernen Placate anderes als gemalte Telegramme? Um sich weithin sichtbar zu machen, arbeiten sie gleichsam bloss mit Fragmenten, deren Zusammensetzung dem Zuschauer zufällt. Darin aber besteht alsdann die Kunst. Die Fragmente so zu wählen und zu ordnen, dass die Phantasie des Beschauers völlig davon bezwungen wird! Sie muss einem suggestiven Zwang unterliegen und dadurch entbunden werden. So wurden die Placate die Lehrmeister der suggestiven Linie und der suggestiven Farbe“.2
Diese Verkürzung ließ keinen Raum mehr für argumentative Seitenlinien oder gar Verästelungen. Selbst die Künstler der Secession stellten in ihren Ausstellungsplakaten den Kampf um neue ästhetische Anschauungen in optisch einfachen und polemisch pointierten Freund-Feind-Schemata dar. Das Bildplakat entwickelte sich in seiner Präzisierung der visuellen Ausdrucksformen häufig auch zu einem Medium der Bildsatire.
Die Polarisierung der Gesellschaft während des Ersten Weltkrieges führte unter anderem zu einer weiteren Dynamisierung der Medienlandschaft. So erschienen erstmals in Österreich in großem Stil Plakate, auf denen politische Inhalte über Bildaussagen transportiert wurden. Bis dahin waren illustrierte Maueranschläge ausschließlich der Veranstaltungs- und Produktwerbung vorbehalten gewesen, nun wurde die aktuelle Situation mit immer wieder neuen Bildmotiven thematisiert. Freilich war es noch keine perfektionierte politische Propaganda wie in späteren totalitären Systemen. Meist wurden da positive „vaterländische Inhalte“ in einer oft nostalgisch verharmlosenden Bildmetaphorik über die zahlreichen Plakate, die für die Zeichnung von Kriegsanleihe warben, übermittelt. Nur selten wurden reale Kriegssituationen dargestellt, sondern bevorzugt kämpften Ritter in historisierenden Darstellungen für die Sache Österreichs. In späteren Anleiheplakaten wurde sogar die offensichtliche Friedenssehnsucht der Bevölkerung thematisiert.
Im Rahmen der herrschenden Zensurbestimmungen waren die Möglichkeiten öffentlich transportierter satirischer Äußerungen sehr eingeschränkt, der Humor trieb dennoch oft seltsame Blüten.
Anlässlich seiner ersten Kriegsvorlesung am 19. November 1914 trug Karl Kraus aus seinem Essay „In dieser großen Zeit“ vor: „Das Große hat Begleiterscheinungen. Wenn die Folgen auf ihrer Höhe sein werden, dann Gnade uns! Das Große hat die Begleiterscheinungen nicht über Nacht kaputt gemacht. Daß Bomben mit Witzen abgesetzt werden und Animierkneipen ein 42-Mörser-Programm ankündigen, zeigt uns, wie konservativ und wie aktuell wir sind. Nicht das Vorkommnis, sondern die Anästhesie, die es ermöglicht und erträgt, gibt Aufschluß. Wie der uns eingefleischte Humor mit dem Übermaß des Blutes sich abfindet, wissen wir. Aber der Geist? Wie bekommt es unsern Dichtern und Denkern? Und wenn sich die Welt auf den Kopf stellt, es fällt ihr nichts besseres ein! Und wenn sich die Welt zerfleischt, es kommt kein Geist heraus!“3
In Österreich-Ungarn bestand eine weit verbreitete Tendenz, diesen Krieg nicht wirklich ernst zu nehmen. Man zeigte immer wieder gegenüber allem Militärischen eine ironische Distanz, die oft unterschwellig eine satirische Dimension entwickeln konnte. Hierin war noch ein Selbstbewusstsein enthalten, das nach Jahrzehnten der Auflösungserscheinungen der Monarchie immer wieder aus der Erfahrung gespeist worden war, dass es trotz aller Probleme immer wieder weitergehe, dass man in der Kunst des österreichischen „Weiterwurstelns“ Meister sei und ein „echter Wiener ohnehin nie untergehe“.
Den spezifisch hintergründigen und nur scheinbar naiven Humor Österreich-Ungarns beleuchtete für die Zeit des Ersten Weltkrieges der Prager Autor Jaroslav Hašek in seinem Buch „Die Abenteuer des braven Soldaten Schweijk“ in nahezu genialer Weise. Ein Plakat, mit dem dieser – im Zivilberuf als Hundefänger tätige – Schweijk seine doppelte Freude gehabt haben müsste, ist eine Ankündigung für das Wiener Apollo Varieté-Theater aus dem Dezember 1914. Beworben wurde eine Reihe von „lustigen Bildern dargestellt von Merians Künstlerhunden“. Der Titel des Programmes lautete geschäftsfördernd aktuell „Einquartierung“. Es bestand aus drei Akten, in denen die dressierten Hund in Militäruniformen ihre Kunststückchen zeigten: 1. Soldatenleben im Wirtshaus, 2. Aufmarsch des Köterregiments und 3. Einquartierung in Dackelhausen.4
Die in der Zeit der Monarchie immer wieder deutlich zutage tretende Tendenz, sich selbst und die Dinge nicht allzu ernst zu nehmen, zeigt neben dieser Hundeshow ein Plakat des „Lustspiel-Theaters“, das die Komödie „Barbaren oder: Die Deutschen kommen!“ ankündigt. Das Lustspiel handelt im Frankreich des Jahres 1870 und thematisiert eine im Weltkrieg tatsächlich aktuelle Debatte über das angebliche Barbarentum der Deutschen. Diese Angriffe waren so stark, dass deutsche Propagandisten sogar Plakate unter dem werbetechnisch nicht wirklich geschickten Titel „Wir Barbaren!“ herausbrachten. Darin wurde der eigenen Bevölkerung im modernen Bildstatistikverfahren vorgerechnet, dass die Deutschen weniger Analphabeten als Engländer und Franzosen hätten, mehr in das Schulwesen investierten, die Sozialversicherungen mehr Leistungen erbrächten, man mehr Bücher produziere und mehr Nobelpreisträger aufzuweisen hätte.
In Österreich gab es im Ersten Weltkrieg kaum eine derart direkt und offensiv gegen die Kriegsgegner gerichtete Plakatpropaganda. Politische Inhalte wurden über Veranstaltungsankündigungen, Sammelaufrufe und vor allem über die Werbung zur Zeichnung der Kriegsanleihen transportiert. Dabei gab es wenig Raum für satirische Darstellungen: die Gegner wurden im wesentlichen nicht herabgewürdigt und auch nicht lächerlich gemacht. Seltsamerweise blieb es einer Affiche aus der Konsumwerbung vorbehalten, in menschenverachtender Weise die gegnerischen Soldaten zu Schießbudenfiguren zu degradieren. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich hier der Weltkrieg jedoch als Konkurrenzkampf der österreichischen Zigarettenpapiermarke „Jacobi“ gegen das „Papier à cigarettes francais“. In kaum einem anderen Fall wurden die wirtschaftlichen Beweggründe für kriegerische Auseinandersetzungen in so krasser Deutlichkeit entlarvt wie in dieser Illustration. Krieg und Tod, allgemeine Verwüstungen und das Erschießen von Menschen werden als großer Spaß dargestellt. Das wienerische Wort dafür, nämlich „Hetz“, kann da seine sprachlichen Wurzeln aus dem Wort „Hatz“ und „Hetze“ nicht verleugnen. Angesichts dieser so offensichtlich unangebrachten Heiterkeit wird einem der von Hermann Broch geprägte Begriff der “fröhlichen Apokalypse” gewärtig. Die mörderische Karikatur wurde von dem sonst eher in harmlos-heiteren Sujetformen arbeitenden Grafiker und Illustrator Emil Ranzenhofer gestaltet. Das Plakat wurde in verschiedenen Sprachen der Monarchie, unter anderem auf Ungarisch, herausgebracht. Interessant ist dabei der Vergleich mit einem im Original aus Ungarn stammenden Plakat, das der bekannte ungarische Grafikers Imre Földes gestaltet hatte. In einer ähnlichen Frontsituation geht es da weitaus friedlicher zu, es braucht kein Gegner attackiert zu werden. Es genügt schon die Tatsache, daß österreichische und ungarische Soldaten ungarisches Bier aus großen schäumenden Krügen trinken und die gegnerischen Soldaten laufen mit erhobenen Händen zu ihnen über.
Das nahezu unerschütterliche „laughter in hell“ versuchte man noch bis knapp gegen Ende des Ersten Weltkrieges im Sommer 1918 auf Plakaten zu verbreiten. Gelegenheit dazu bot die Ersatzmittelausstellung, die nicht nur eine Leistungsschau der Surrogatstoffindustrie darstellte, sondern auch den bitteren Mangel an Rohstoffen nur allzu deutlich machte. Für den Bereich Leder ließ der populäre Karikaturist Fritz Gareis einen grimassierend lachenden, barfüßigen Schusterbuben einige Schuhe aus Ersatzstoffen, wie Holz, Filz oder Teer, dem Betrachter entgegenhalten. Die Schusterbuben galten lange Zeit als Inbegriff des frechen und damit kritischen Wiener Volkswitzes. Viele Betrachter mögen damals in dem Bild deshalb auch eine bittere Satire auf die notdürftige Versorgungslage gesehen haben.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und mit der Ausrufung der Republik im Jahr 1918 erhielt die politische Landschaft Österreichs und damit auch die Medienszene völlig neue Impulse. In der Öffentlichkeitsarbeit der Parteien entfernte sich die Entwicklung von der intensiven Wortbezogenheit der Argumentationen, die Macht der Bilder trat mehr und mehr in den Vordergrund. Der erste Wahlkampf in der jungen Republik, die Wahlen zu der konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919, brachte einen visuellen Schub in der politischen Propaganda. Die Gestalter der Plakate griffen dabei vornehmlich auf das Repertoire der Zeitungsillustrationen und der Karikaturen in den beliebten Witzblättern zurück.
Die Neuerungen wurden dementsprechend in der Presse kommentiert: „Das Wahlplakat der ersten Wahlen im neuen Staat ist gründlich verschieden von seinem Vorgänger in der Vorkriegszeit. Das war sozusagen ein Geschäftsmann aus dem Vormärz. Wenn du mit mir in Verbindung treten willst, bedeutete seine Sprache, gut und schön. Verspürst du dazu keine Lust, kann ich auch nichts machen. Anders sein Nachfolger von heute. Der stürzt sich auf dich, sucht dich wehrlos zu machen und mundtot; bemüht sich, deinen Einwendungen zu begegnen, deinen Widerspruch niederzuschreien. Das illustrierte Wahlplakat gibt der Wahlwoche seine Signatur. Der Text ist nur die Zugabe zur Zeichnung. Das Bild dominiert, strebt die alleinige Wirkung an. Es rechnet mit der psychologischen Tatsache, daß das Kino dem Theater den Vorrang abgenommen hat. Darum der Wettkampf der Plakatzeichner, wer den kürzesten Kommentar beansprucht und den wortkargsten.“5 Ein anderes Blatt vermerkte: „Die Karikatur im Dienste der Politik ist keine Neuerscheinung, aber so massenhaft und öffentlich wurde sie nie verwendet. Die Kunst der Straße hat neue Impulse gewonnen.“6 Relativ rasch bildete sich auf den Bildplakaten ein Inventar an Symbolfiguren und typischen Situationen heraus, das für die Auseinandersetzungen der Ersten Republik bestimmend sein sollte. Die satirischen Klischees, die von den Grafikern im Auftrag der verschiedenen Parteien entworfen wurden, entwickelten sich dabei aber auch zunehmend zu Realitäten. Es ist schwer festzustellen, wie weit tatsächlich kritische, visionäre Kräfte am Werk waren, oder ob man vom Gegner in eine negative Schablone gedrängt wurde. Dazu nur zwei Beispiele: Die Sozialdemokraten warnten lange Zeit vor dem Typus des hartherzigen und machtbewussten katholischen Geistlichen – und dann wurde der Moraltheologe Dr. Ignaz Seipel österreichischer Bundeskanzler und projizierte als solcher das Bild des harten Sanierers und „Prälaten ohne Milde“ in die Wirklichkeit. Die Christlichsozialen wiederum warnten so lange vor der linken Gefahr und den roten Brandstiftern, bis sozialdemokratische Parteigänger im Zuge einer Demonstration 1927 den Justizpalast anzündeten.
Das Ende der Monarchie wurde in verschiedenen, zum Teil provokanten Bildern beschworen, wobei die Sozialdemokraten den Umbruch besonders euphorisch und in ihren Bildmedien sehr pointiert feierten. Vor allem gab man die angeblichen und wirklichen Repräsentanten der überwundenen Monarchie einem bitteren Spott preis. Auf einem von Theo Matejko gestalteten Plakat wird das Volk von der Kaiserkrone erdrückt, auf der die Karikaturentypen eines katholischen Geistlichen, eines Kapitalisten und eines österreichischen Generals sitzen und damit noch den Leidensdruck der Menschen erhöhen. Aus dem Blut der geschundenen Volkes bilden sich die Buchstaben des Slogans „Wählt sozialdemokratisch“.7 Der Entwerfer, Theo Matejko, hatte, wie die meisten seines Faches, zunächst als Zeitungsillustrator gearbeitet, bis er in Österreich und Deutschland zu einem der erfolgreichsten Plakatgrafiker wurde. Bei aller Brutalität der dargestellten Szene hat das Plakat in der karikaturhaften Überzeichnung der Repräsentanten der „Reaktion“ dennoch einen komischen Aspekt. Erstmals wurden auf diesem Blatt die einzelnen Prototypen der sogenannten „vereinten Reaktion“ aus der Sicht der Sozialdemokraten vorgeführt. Immer wieder tauchen dann in der Folge diese Figuren in der politischen Propaganda der Linken auf. Es handelt sich dabei um den dicken, katholischen Geistlichen, der sich hier zufrieden an den nicht minder korpulenten Kapitalisten mit Zigarre und Zylinder schmiegt. Im Unterschied zu heute war damals, zu Zeiten von immer wieder auftretenden Hungersnöten, eine rundliche Gestalt noch ein klares Sinnbild für Reichtum. Etwas abseits von den beiden sitzt ein kaiserlicher General, der verträumt einen Damenschuh betrachtet, den er in den Händen hält. Jedem einigermaßen interessierten Betrachter war es möglich, die Stoßrichtung dieser Karikaturen ohne weitere verbale Erläuterungen zu verstehen, da die Sozialdemokraten ihre Position in zahlreichen Flugblättern und Zeitungen ausführlich erklärt hatten. So wurde auch auf einigen Textplakaten die Analyse der Sozialisten deutlich dargelegt: „Tausend Menschen täglich sind durch den Krieg in Österreich gestorben! Volk, Du hast schwer gelitten! Deine Kinder haben gefroren und gehungert! Wozu das alles? Um die Machtgier einer herrschsüchtigen und korrupten Dynastie zu stillen! Um den profithungrigen Großkapital Milliardengewinne zu sichern! Wem verdanken wir das? Die bürgerlichen Parteien haben der Blutmonarchie gehuldigt – sie haben der Massenschlächterei die Mauer gemacht. Vergessen wir das niemals! Volk räche Deine Opfer! Diesen Parteien am 16. Februar keine Stimme – keine Stimme den Kriegshetzern und Kriegsverlängerern! Ob Mann oder Frau, wir rufen Euch – Wahltag ist Gerichtstag.“8
Die Kaiserkrone, wenige Monate davor noch als nahezu heiliges Symbol der Monarchie verehrt, wurde nun auf den Plakaten der Sozialdemokraten zum Sinnbild des Machtmissbrauchs. Auf anderen Plakaten liegt die Krone auf der Schutthalde der Geschichte und ist Teil des Monarchiemülls, der vom mutigen roten Arbeiter ausgekehrt werden muss. Eine Tätigkeit, an der ihn wieder einmal die Witzfiguren der vereinten Reaktion hindern wollen.
Im Wahlkampf 1920 führt der aus Ungarn vor dem Horthy-Regime geflüchtete Grafiker Mihály Biró auf diesem erwähnten Wahlplakat den Thron als Teil der sozialdemokratischen Revolutionsikonographie in Österreich ein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es bei aller Kritik an den Missständen der überwundenen Monarchie in Österreich bis dahin niemand gewagt hatte, den letzten Kaiser direkt darzustellen. Zu stark war offensichtlich noch die emotionale Bindung der Menschen an das entthronte Kaiserhaus. Biró aber hatte schon 1918 in dem radikaleren Ungarn ein Plakat herausgebracht, auf dem ein revolutionärer Arbeiter den Herrscher, der eindeutig die Gesichtszüge des letzten Kaisers Karl trägt, vom Thron stößt. Bereits 1912 hatte die ungarische Sozialdemokratie auf einer Mai-Festschrift ein zwar gemäßigteres, aber doch ähnliches Sujet publiziert. Freilich hat hier der dargestellte Herrscher, der sich vor dem revolutionären Symbol der phrygischen Mütze fürchtet, keine Ähnlichkeit mit dem damals noch herrschenden Kaiser Franz Josef. Ein anderes von Biró gestaltetes Plakat, das für eine ungarische Version eines Buches von Karl Kraus warb, verfuhr ziemlich brutal mit dem habsburgischen Doppeladler: Ein Proletarier, der von Biró kreierte „rote Riese“, presst den toten Wappenvogel in einen Sarg und drückt den Deckel zu.
Nicht die propagandistische Arbeit der Politik war es, sondern die Affiche für die Zeitschrift „Wiener Woche“, die in Österreich in einer schonungslos offenen Weise das Ende der Monarchie verkündete. Eine für die damalige Zeit aufreizend erotische Marianne, Symbol der französischen Revolution und der republikanischen Regierungsform an sich, lehnt an dem umgestürzten Thron der Habsburger und balanciert lässig die altehrwürdige Kaiserkrone mit der rechten Fußspitze. Ein provokanteres politisches Bildarrangement war für die damalige Zeit in Österreich schwer vorstellbar.
Aus demselben Wahlkampf 1919 stammt eine Affiche der kleinen „Demokratischen Partei“, auf der die revolutionäre Marianne als ein braves Schulmädchen dargestellt ist, das noch viel in Sachen „Freiheit, Demokratie und Republik“ zu lernen hat. Die Marianne blieb auch weiterhin ein Element der politisch satirischen Bildwelt. 1924 stand ein Wiener Künstlerball unter dem Motto „Hofball bei Frau Republik“. Das dazugehörige von Victor Th. Slama gestaltete Plakat zeigt eine elegante rote Dame mit Jakobinermütze, die sich von einem höfischen Bedienten die Hand küssen lässt. Die Illustration belegt damit in ironischer Weise, wie stark das republikanische Österreich weiterhin vom Lebensstil und den Verhaltensnormen der überwunden geglaubten Monarchie geprägt war. Dass die weibliche revolutionäre Gestalt der Marianne jedoch nicht immer positiv konnotiert war, beweist eine Propagandapostkarte aus Deutschland, in der es um den Kampf um das Ruhrgebiet geht. Gestaltet wurde die Propagandazeichnung von eben jenem Theo Matejko, der das Plakat für die „Wiener Woche“ entworfen hat. Nun aber wird die Marianne völlig negativ als bedrohliches nationales Symbol Frankreichs dargestellt.
Ein andere die Ikonographie der Arbeiterschaft beherrschende Figur war der „rote Riese“, als Sinnbild der Macht des Proletariats. Er steht meist im Kampf mit den verschiedenen Vertretern der „Einheitsfront des Kapitalismus“. Manchmal gesellen sich zu der „Standardbesetzung“ von Militär, Klerikern und Kapitalisten noch Landadelige und Großbauern hinzu, alle in der Karikatur besonders an ihren spezifischen Kopfbedeckungen erkennbar. In manchen Bildern wurde der rote Arbeiter, wie etwa auf einem Plakat der KP, so forsch und mächtig präsentiert, dass nicht mehr viel dazu fehlte, dass die rechten Propagandisten diese Darstellungen als Prototypen der roten Gefahr übernehmen hätten können. Auf dem erwähnten Plakat für die kommunistische Zeitung “Die rote Fahne“ etwa läuft eine Reihe von Bürgern vor dem fahnenschwingenden Proletarier in Panik davon.
Im Wahlkampf 1923 schuf einer der populärsten Karikaturisten jener Zeit, Carl Josef Pollak, der nur mit seinen beiden Vornamen signierte, für die Sozialdemokraten eine großformatige fünfteilige Plakatserie, in der er mit spitzem Bleistift ein Revue der politischen Feindbilder dieser Partei schuf.
Unter anderem war es der katholische Klerus, der hier zum Ziel des Spottes gemacht wurde. Zum Bild eines unfreundlichen, dicken und eines asketisch verbitterten Geistlichen wird die Frage gestellt: „Wollt Ihr, daß diese Eure Herren sind?“ Diese Strategie des Kampfes gegen die mächtige Kirche und damit gegen die Christlichsoziale Partei zog sich durch die Politik der Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit. Immer wieder wurde an die Monarchie und das Bündnis von Thron und Altar, an die enge Bindung der Kirche zum Herrscherhaus, erinnert. So wie die Sozialdemokraten generell als die Roten bezeichnet wurden, so wurden die Christlichsozialen nach den schwarzen Kutten der Geistlichen die Schwarzen genannt. Die Christlichsozialen versuchten aus dieser antiklerikalen Stoßrichtung ihrer linken Gegner wahlpolitisches Kapital zu schlagen. Schon 1919 ließ der „Diözesan-Ausschuß der Katholiken Wiens“ angesichts der antiklerikalen Werbung der Sozialisten folgenden Appell plakatieren: „Glaubst Du an Gott? Dann achte, wen Du am 16. Februar wählst! Die Sozialdemokraten, die bürgerlich- und anders-demokratischen Parteien wollen die Trennung von Kirche und Staat, die Verschlechterung des Eherechtes, die Vertreibung der Religion (ohne Unterschied der Konfession) aus der Schule. Nur eine große Partei tritt für den Schutz der Religionen ein: Die Christlichsozialen. Glaubst Du an Gott, willst Du Freiheit und Schutz für Deine Religion, dann wähle am 16. Februar: Christlichsozial!“9
Die Sozialdemokraten lieferten daraufhin eine satirische Replik mit einem Plakat, das den Wortlaut trug: „Der liebe Gott spricht: Du sollst den Namen Gottes nicht eitel nennen! Du sollst nicht töten! Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten! Du darfst daher nicht christlichsozial wählen!“10
Bald zeigte sich, dass Agitation gegen die Religion an sich, gegen das sogenannte „Opium für das Volk“, einem Wahlerfolg abträglich sein konnte. So wurde in der sozialdemokratischen Propaganda zwar die Kritik an der Amtskirche betrieben, nicht aber am Christentum. Auf einem Wahlplakat aus dem Jahr 1920 wurde sogar Christus selbst als Zeuge gegen den verweltlichten Klerus aufgerufen. Angesichts zweier Geistlicher, die in einer luxuriösen Kutsche fahren, an deren Heck ein aktuelles christlichsoziales Plakat angebracht ist, wendet sich die Gestalt Christi ab, um zu verkünden „So habe ich das Christentum nicht gemeint!“
Im Wahlkampf 1923 kam es auf Plakaten der Sozialdemokraten zu einer spannungsreichen Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges. Einerseits zeigten die Anschlagwände einen leuteschindenden General aus der von Carl Josef (Pollak) gestalteten Serie, andererseits präsentierte Victor Slama die Kriegsopfer: so etwa einen Invaliden in Uniform vor einer imaginären Plakatwand. Diese Wand besteht aus einer Collage von Druckwerken aus dem Ersten Weltkrieg, die hier in nahezu Karl Kraus’scher Zitiertechnik ein bitter-höhnisches Zeitbild bieten. Laut Berichten der Arbeiter-Zeitung erregte das Plakat großes Aufsehen – gleich nach Erscheinen sollen sich „dichte Scharen gesammelt haben, die das Plakat, genau studierten“.11
Ein bürgerlicher Kritiker vermerkte zu dem Werk in ironischer Weise: „Welche Raffinesse der Raumausnützung! Kein Fleckerl, das nicht agitierte, und das ganze noch blutbetropft! – und dies und noch viel mehr wird den andern unter die Nase gerieben, als ob Dörrgemüse und Schmallieferungen ihre höchstpersönliche Sünde wären.“12
Relativ früh wurde mit einer Carl Josef (Pollak)-Karikatur der aufkommende Nationalsozialismus glossiert. Dieses und ein späteres Plakat aus der Steiermark beweisen, dass man in Österreich lange Zeit die Nazis offenbar ausschließlich auf ultrarechte Studentenverbindungen beschränkt sah.
Wesentlich weiter verbreitet als der Nazismus als politische Bewegung waren in den ersten Jahren der Republik sehr deutliche antisemitische Strömungen. Insbesondere die Christlichsozialen versuchten mit einer derartigen Hetze Wählerstimmen zu fangen. Auf zahlreichen Flugblättern dieser Partei wurden Weltverschwörungstheorien verbreitet, wie sie später dann die nationalsozialistische Propagandamaschinerie wieder aufnahm. Es hieß da unter anderem: „Unser hartgeprüftes Volk wird seit Jahrzehnten fürchterlich belogen und betrogen. Das Weltjudentum hat sich in der internationalen sozialdemokratischen Partei eine Schutztruppe irregeleiteter Volksgenossen geschaffen, die, ein blindes Werkzeug in ihrer Hand, ausschließlich und allein nur von Männern jüdischer Rasse oder Abstimmung geführt, dazu ausersehen ist, die Volksmassen gegeneinander zu verhetzen und in den Lügenbann sozialistisch-kommunistischer Wahnideen zu halten, damit während dieser Zeit die Juden alle Reichtümer der Welt zusammenraffen, sie in ihrer Hand vereinigen, um den Boden ihres Volkstumes mit dem Herzblute der arbeitenden Menschheit düngen zu können.“13 Eines der übelsten Beispiele dazugehöriger Bildpropaganda war ein Wahlplakat der Christlichsozialen, das den österreichischen Wappenadler zeigt, wie er von einer kapitalistischen „jüdischen Schlange“, die sich an ihm emporwindet, erdrückt wird.
Als nun 1927 die Christlichsozialen gemeinsam mit den Großdeutschen und einigen kleineren bürgerlichen Gruppen auf einer gemeinsamen „Einheitsliste“ kandidierten und auch um jüdische Stimmen warben, glossierten die Sozialdemokraten diesen Gesinnungswandel ihres Hauptgegners mit einem eigenen Plakat. Zur Karikatur eines rabiaten Antisemiten ist folgender Text zu lesen: „Vor 40 Jahren: wer war schuld an Eurem Elend? ‚Dar Jud‘ . Seit 40 Jahren: wer war schuld an Eurem Elend? ‚Dar Jud‘. Und heute soll ’Darselbe Jud‘ in die Einheitsfront?! Christen und Juden laßt Euch nicht länger foppen – Wählt nur sozialdemokratisch!“
Aufgrund der Art und Weise, wie Sozialdemokraten ausbeuterische Bankiers karikieren ließen, mußten sie sich allerdings auch selbst den Vorwurf der Verbreitung antisemitischer Klischees machen lassen. Wenngleich derartige Dinge bei den Sozialdemokraten oft den Charakter innerjüdischer Kritik hatten – sowohl Propagandisten als auch Politiker entstammten nicht selten dem Judentum – so hatten derartige Zerrbilder sicher auch einen negativen Einfluss auf die gegenüber Vorurteilen anfällige Bevölkerung.
Darüber hinaus war der „Kapitalist“ in diesen wirtschaftlichen Umbruchzeiten, in denen man schnell hohe Verluste, aber auch hohe Gewinne machen konnte, eine interessante Figur für die Unterhaltungsindustrie, wie Plakate aus dem Film- und Theaterbereich zeigen. Bei derartigen Darstellungen wurde besonders die Kopfbedeckung des Zylinders als eine Art Herrschaftszeichen dieser neuen Klasse karikiert. Ein Plakat, das an sich für den französischen Film „Les nouveaux messieurs“ werben sollte, wurde vom gestaltenden Grafiker Victor Slama zu einer witzigen Abrechnung mit den „neuen Herren“ in Österreich gemacht. Vor dem Wiener Parlament wird ein „Bonze“ mit grotesk überzogenem Zylinder gezeigt. Darauf eingedruckt ist folgendes Gedicht: „Das schöne Land Nirgendwo lebt im Glück,/ Ist eine schöne demokratische Republik,/ Hat Wahlen, Minister und Parlament,/ Aber alles ganz anders, als hier man es kennt./ Dort sieht man an Bonzen, an neuen und alten,/ wie sie ans Ruder gelangt, sich entfalten,/ Und man freut sich unbändig, wenn einer sich sacht,/ Nicht derb, aber gründlich lächerlich macht./ Doch erkennt man klar und ist drüber froh:/ So etwa gibt’s nur in Nirgendwo!“
Der letzte hier zu erwähnende Karikaturentypus war das Antibild des Hausherren, der dicke, herzlose Mann mit mächtigem Schnurrbart, der gut am Elend seiner Mieter verdient. Nachdem der christlichsoziale Bundeskanzler Ignaz Seipel 1923 im Parlament verkündet hatte, dass man fortan „normale Verhältnisse“ schaffen müsse, in denen der „Hausbesitzer von dem, was das Haus abwirft leben“ könne, hatten die Sozialdemokraten zumindest für die nächsten zwei Wahlkämpfe ihren Propagandaschlager. In immer wieder neuen satirischen Bildern und Slogans wurde das Thema abgearbeitet. Allen Zeitgenossen war daher bald klar, daß jedes neue Mieterschutz-Plakat nur von den Sozialdemokraten stammen konnte. Diese konnten daher bei derartigen Anschlägen sogar auf den Parteinamen verzichten.
Die Christlichsozialen, die trotz der propagandistischen Anfeindungen zur bestimmenden politischen Kraft im Österreich der Zwischenkriegszeit werden sollten, verzichteten zunächst im ersten Wahlkampf der Republik weitgehend auf satirische Attacken auf ihre Gegner. Eine Woche vor dem Wahlsonntag beklagte ein Redakteur der christlichsozialen Tageszeitung „Reichspost“ den Propagandastil der politischen Gegner: „Gewalt, Schrecken, neue Sensationen, neue Kämpfe, blutrünstige Phantasien überall, nirgends Rast, nirgends in allen diesen Bildern, die zur Wahl für diese und jene Partei aufrufen, die aufleuchtende Sehnsucht nach Versöhnung, Sammlung der Volkskräfte, Ruhe und Heimkehr des Friedens, nirgends der Gedanke daran, daß das Volk übergenug hat von Unruhe, Streit, Haß, Zerstörung geistiger und materieller Güter, und daß jedermann im Volke, der mitzählt für das im Staate zu Schaffende, gleichgültig, welch Standes und Geschlechtes er sei, von dem neuen Deutschösterreich Frieden, Brot für sich und die Seinen und Platz für redliche Arbeit verlangt.“14
Relativ rasch besannen sich die christlichsozialen Wahlkampfleiter einer anderen Strategie, die dem Gegner nichts an Aggression nachstand. Mit einem brandstiftenden roten Terroristen malte man den Teufel buchstäblich an die Wand. Einerseits spielt die Karikatur eines Rotgardisten auf die revolutionären Erhebungen im Ausland an: Die russische Revolution war da beim konservativen Bürgertum ein wirkungsvolles, abschreckendes Beispiel, besonders beunruhigend aber empfand man im Winter 1919 die Ereignisse um den Spartakusaufstand in Berlin. Die bürgerliche Presse zeigte sich gerade darüber sehr besorgt und berichtete über die aktuellen Ereignisse, als ob es sich um ein innenpolitisches Thema handelte, rechnete man doch, den baldigen Anschluss Österreichs an Deutschland erreichen zu können. Zum anderen spielt das Plakat auf tatsächlich vorgekommene Übergriffe von sozialdemokratischen „Volkswehrmännern“ in Österreich an. Die Zeit des Wahlkampfes wurde in der christlichsozialen „Reichspost“ mit Schlagzeilen über den „roten Terror“ in Österreich begleitet.
Das Plakat stammt von Fritz Schönpflug, ein schon zu Zeiten der Monarchie überaus beliebter Militärkarikaturist. Er war zu seiner Zeit so populär, dass er sogar in den „Letzten Tagen der Menschheit“ von Karl Kraus ironische Aufnahme gefunden hat. Bei einem der vier Offiziere, die sich darin immer wieder an der Sirk-Ecke treffen, um dort in ihrer typisch oberflächlichen Weise das Zeitgeschehen zu kommentieren, ist es eine stehende Redewendung zu sagen: „Habt’s das Bild vom Schönpflug gsehn, Klassikaner“.
Der Kampf der Sozialisten gegen die Wohlhabenden und Reichen und ihre Bemühungen um Umverteilung wurde von den Konservativen geschickt als die allgemeine Bedrohung drückender Steuerbelastung präsentiert. Optisch wurde die Angst vor dieser weiteren „roten Gefahr“ eindrucksvoll in einem Plakat dargestellt, das den bösen „roten Mann” zeigt, der eine Reihe von bürgerlichen Steuerzahlern in einer Presse, gemeint ist die „Steuerpresse“, ermordet. Dass diese Situation in der Ikonographie der politischen Karikatur damals bereits ein international bekanntes Sujet war, beweist ein Beispiel aus dem Frankreich des Jahres 1914.15
Wie stark sich während der Entwicklung der Ersten Republik die Fronten verhärteten, zeigen unter anderem die Wahlplakate. Gerade die politische Propaganda ist ein feiner Indikator für derartige Tendenzen. Hatte man 1923 die Sozialdemokraten in Form eines zerzausten roten Hahnes dargestellt, der angeberisch die Wahlversprechungen hinauskräht, so sind die Sozialisten 1930 schon ein roter Drache, der vernichtet werden muss. Verschwunden ist da jeder Ansatz von Humor. Denn da, wo die Privatarmeen der Parteien die politischen Auseinandersetzungen zunehmend dominierten, war nur noch wenig Raum für Satire.
Nachdem die beiden großen Parteien einander so vehement mit immer wieder neuen Negativklischees bekämpften, war es für eine liberale Partei, wie die Bürgerlichen Demokraten, verlockend, diese Antibilder zusammenzufassen und sie gleichermaßen gegen Rot und Schwarz zu verwenden: In immer wieder neuen Karikaturen wurde so vor den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen gewarnt. Eine Darstellung mit überaus eindrucksvoller Bildsymbolik stammt von Theo Matejko, der in diesem Wahlkampf auch für die Sozialdemokraten arbeitete. Das Bild zeigt einen dicken katholischen Geistlichen und einen roten Teufel, die gemeinsam das Volk in den Abgrund führen. Auf anderen Plakaten knabbern rote und schwarze Raupen das gesunde Grün des Staates an. In einem anderen Bild wieder behindern rote und schwarze Fesseln ein weißes Pferd, was in einem Land wie Österreich, in dem die weißen Lippizaner zu den wenigen unbestrittenen nationalen Symbolen gehören, als besonders schmerzlich empfunden werden musste. Zu Anfang der Republik bediente sich die Bürgerlich-demokratische Partei am stärksten von allen Parteien des Bildmediums. Dennoch fiel sie trotz des hohen propagandistischen Aufwandes nach der Wahl 1919 in die politische Bedeutungslosigkeit.
In der politischen Werbung war man im wesentlich auf die Situation in Österreich konzentriert, ein antiungarisches Plakat aus dem Jahr 1921 anlässlich der Volksabstimmung um die Zugehörigkeit von Sopron/Ödenburg zu Österreich oder zu Ungarn blieb da eine Ausnahme.16
In der in den zwanziger und dreißiger Jahren florierenden Wirtschaftswerbung sind im Unterschied zur Politik wenig satirische Ansätze erkennbar. Ein Umstand, der in der Natur des Sache liegt: fremde Produkte durfte man aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen nicht verächtlich machen, und das eigene Angebot mit Spott zu verbrämen war nicht zielführend. Am ehesten gab es derartige Ansätze bei der Verwendung von „Vorher – nachher“- oder „Neu gegen alt“- Schemata, wie das etwa der österreichisch-deutsche Grafikdesigner Julius Klinger in seinem Plakat für Tabu-Zigarettenpapier tat: Einer verwinkelten Altstadt stellt der überzeugte Loos-Anhänger Klinger einen amerikanischen Wolkenkratzer als Zeichen der Moderne gegenüber. Trotz der negativen satirischen Darstellungsform der Altstadt wird der heutige Betrachter des Bildes allerdings eher die damals positiv gemeinte Darstellung des Neubaus als bedrohlich empfinden.
Produkte, die mit einer gewissen Peinlichkeit für den Käufer verbunden sind, wurden – und werden – immer wieder mit Witz beworben. Bei Vertilgungsmitteln gegen Ungeziefer wie Motten und Wanzen versuchten die Werbeleute, die einschlägigen Produkte mit grimmigem Humor unter die Leute zu bringen.
Zu literarischen Ehren ist eine populäre Figur der österreichischen Werbelandschaft gekommen: die Titze-Tante. Diese humorvolle Inkarnation der Kaffee-Tante, die für das Kaffee-Ersatzmittel „Titze-Kaffee“ warb, erscheint im Stück „Weltuntergang“ von Jura Soyfer der Hauptfigur Prof. Guck im Traum und singt dort das „Chanson der Titze-Tante“.
Ein seltsame Form der Wirtschaftswerbung ist ein Plakat des sogenannten „Goldfüllfederkönigs“, eines Wiener Schreibwarengeschäftes. Nachdem das gewaltsame Vorgehen der Polizei im Zusammenhang mit dem Brand des Justizpalastes 90 Todesopfer und ungefähr 1100 Verletzte gefordert hatte, setzte sich Karl Kraus sehr intensiv mit den Ereignissen in der „Fackel“ auseinander. In Polizeipräsident Schober meinte er all jene Merkmale des „fidelen Henkers“ der Kriegszeit zu erkennen. Er sah in ihm einen Mann, der versuchte, Nachgiebigkeit bei Schiebern und Erpressern durch Härte gegenüber den Arbeitern wettzumachen. Daher ließ Kraus Textanschläge drucken, in denen er den Polizeipräsidenten aufforderte zurückzutreten. Die Plakataktion erregte großes Aufsehen und rief wilde Polemiken von Seiten der konservativen Medien hervor. Einerseits behauptete man, dass es sich hier „um einen Reklametrick des Fackel-Kraus“ handle, andererseits, dass die Aktion „nichts als ein Stoß in die Luft oder ein Schlag ins Wasser“ wäre. Kraus entgegnete daraufhin, dass das Plakat tatsächlich „ein Stoß in die unreine Luft, ein Schlag ins faule Wasser“ sein sollte.
Ernst Winkler, der selbsternannte „Goldfüllfederkönig“ antwortete mit einer Plakatreplik, in der er Schober aufforderte, nicht abzutreten. Der Geschäftsmann war auch sonst in der Wahl seiner Werbemittel nicht wählerisch. Er setzte mehrmals groß aufgemachte Gerüchte um geheimnisvolle Selbstmorde von, wie sich später herausstellte, erfundenen Personen in Umlauf und er brachte sich, nur der Publicity wegen, selbst in Verdacht, einen Raubmord geplant zu haben. Dann wieder kündigte er ein Revolverattentat bei einem Opernball an und deponierte eine Bombenattrappe bei der Postsparkasse. 1931 schließlich plante Winkler, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren.
Karl Kraus blieb beim Erscheinen des – wie er sagte – „vom beifälligen Grinsen der Bürgerwelt“ begleiteten Plakates gelassen. In Anlehnung an den bekannten Aphorismus von Lichtenberg meinte er: „… wenn ein Plakat und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, so muß nicht immer das Plakat schuld sein.“17
Aktualisierte und überarbeitete Fassung des 1999 erstmals erschienenen Artikels:
Denscher, Bernhard: Der Witz der Werbung. Satirische Plakate in Österreich von 1914 bis 1938, in: Ecritures et langages satiriques en Autriche (1914 – 1938)/Satire in Österreich (1914 – 1938). Etudes réunies par Jeanne Benay et Gilbert Ravy /Hrsg. v. Jeanne Benay u. Gilbert Ravy, Bern 1999, S. 105ff.
1 | Kraus, Karl: Die Welt der Plakate, in: Die Fackel 1909/283 – 284, S. 19 – 25. |
2 | Servaes, Franz: Künstlerlithographien, in: Ver sacrum 1898/9, S. 3ff. |
3 | Kraus, Karl: In dieser großen Zeit, in: Die Fackel, 1914/404, S. 1 – 19. |
4 | Die in der Folge besprochenen Plakate aus dem Ersten Weltkrieg sind abgebildet und kommentiert in: Denscher, Bernhard: Gold gab ich für Eisen. Österreichische Kriegsplakate 1914-1918, Wien 1987. |
5 | Neue Freie Presse, 15. 2. 1919, S. 13. |
6 | Das interessante Blatt, 20. 2. 1919, S. 9. |
7 | Die in der Folge erwähnten Plakate sind abgebildet und kommentiert in: Denscher, Bernhard: Österreichische Plakatkunst 1898-1938, Wien 1992; Denscher, Bernhard (Red.): Tagebuch der Straße. Geschichte in Plakaten, Wien 1981. |
8 | Wählet sozialdemokratisch, Plakat, Wienbibliothek (=WB), Sign.: P 970. |
9 | Glaubst Du an Gott?, Plakat, WB, Sign.: P 988. |
10 | Der liebe Gott spricht, Plakat, WB, Sign.: P 1070. |
11 | Arbeiter-Zeitung, 5. 10. 1923, S. 4. |
12 | Neues Wiener Tagblatt, 5. 10. 1923, S. 10. |
13 | Konvolut von Aufrufen, Flugblättern, Stimmzetteln etc. für die Wahlen in den Nationalrat 1920, Wienbibliothek. |
14 | Reichspost, 9. 2. 1919, S. 1f. |
15 | Vgl.: Gervereau, Laurent: Terroriser, manipuler, convaincre! Histoire mondiale de l‘affiche politique, Paris 1996, S. 181. |
16 | Vgl.: Massiczek, Albert: Zeit an der Wand. Österreichs Vergangenheit 1848 – 1965 in den wichtigsten Anschlägen und Plakaten, S. 57. |
17 | Die Fackel, 1927/766 – 770. |