Weil jeder genau so ist, wie er aussieht, und weil wir nur nicht lesen können, was uns die Natur eindeutig auf die Menschengesichter schreibt, so können Augenblicksfotografien erbarmungslos enthüllen, was das Auge nicht so schnell hat wahrnehmen können. Eine Momentaufnahme ist die fixierte Blamage einer unvorsichtigen Bewegung, eines schiefen Lächelns, einer sorgsam versteckten Beobachtung … Plötzlich ist alles am Tage.
Das Tier, das fast niemals Komödie spielt, ist in jedem Augenblick unmittelbar wahrhaftig; dem fotografierten Menschen rutscht manchmal aus Versehen die Wahrheit über das Gesicht, und wenn sie ihn gerade dabei fassen, ist es sein Pech. Was enthüllt die Linse –?
Die Linse ist ein Aphorismus aus dem fortlaufenden Roman der Zeitlupe, und was hunderttausend Worte nicht zu sagen vermögen, lehrt die Anschauung, die direkt an das Gefühlszentrum greift, die die Vermittlung der Gehirnarbeit als fast nebensächlich übergeht, die unausradierbar aussagt, wie es gewesen ist. Wir sehen:
Sie küßt hingebender als er, dieser Roman wird vielleicht nicht gut enden, hier wächst ein junges Pflänzchen Unglück; brave Gesichter enthüllen in der Sportgrimasse der Anstrengung das Äußerste an Hingabe und Temperament: das sind jene stillen Frauen, von denen man nicht nur nach einem Sportsieg sagen wird: „Eigentlich hätte ich der das gar nicht zugetraut!“ Weil es keine festgehaltene und fixierte Begeisterung gibt, so überrascht sie doppelt und dreifach in der Fotografie, und mir ist ein Beispiel bekannt, wo das Leben sich nach der Linse richten sollte: das war damals, als erregte Arbeitermassen auf dem Tempelhofer Feld die gerechte Forderung des allgemeinen Wahlrechts vertraten. Damals wurde die übliche Resolution durch Händeerheben angenommen, und irgendein braver Parteifunktionär hatte dazu gerufen: „Bitte die Genossen die Hände erhoben zu halten – für den Momentfotografen!“ Begeisterung ist manchmal eine Heringsware, die man einpökelt für mehrere Jahre.
Der seinen Durst hastig löschende Läufer, die hingegebenen Schultern eines Mannes unter dem Galgen, die verkrampften Finger eines Gierigen: mit einem Schlage enthüllt sich ein kleines Leben, und es ist wohl die allerdümmste Entschuldigung, wenn der so richtig Getroffene etwa zu sagen pflegt: „Ich habe nicht gewußt, dass ich fotografiert werden sollte.“ Eben weil er es nicht gewußt hat, hat er sich nicht in acht genommen, und die Wahrheit ist an den Zelluloidstreifen gekommen.
Ein Bild sagt mehr … Hunderttausend Worte wenden sich an den Verstand, an die Erfahrung, an die Bildung – das Bild …
„Was ihm die Schrift nicht sagen kann,
Das ist das G’mäl’ für den g’meinen Mann.“
Wenn der alte treffliche Ferdinand Kürnberger die Entwicklung der modernen Illustrationspresse hätte voraussehen können, so hätte er wahrscheinlich nicht schlecht geflucht: er hielt diese Abkürzung der Beweisführung für Verflachung.
Und weil ein Bild mehr sagt als hunderttausend Worte, so weiß jeder Propagandist die Wirkung des Tendenzbildes zu schätzen: von der Reklame bis zum politischen Plakat schlägt das Bild zu, boxt, pfeift, schießt in die Herzen und sagt, wenns gut ausgewählt ist, eine neue Wahrheit und immer nur eine. Es gibt Beschreibungen, die die Bilder übertreffen, aber das ist selten. Es gibt hunderttausend Fotografien, die den besten Schilderer übertreffen, das ist die Regel …
Die Zeitlupe, die den lieben Gott betrügt und das Auge des Menschen in die kleinsten Zeitintervalle schiebt, die Zeitlupe läßt nun gar nichts mehr unverschleiert und reißt dem sich Bewegenden die Schnelligkeit vom Leibe: da wühlt er nun in Watte, ausführlich, bekömmlich langsam und alles enthüllend, was da ist.
Glaubs nicht. Olly hat dir ihre weichabgetönte Bildnisfotografie geschickt, und Hans ist höchst malerisch mit Motorrad fotografiert worden. Glaubs nicht. Sieh dir ein Bild von ihnen an, ein einziges: Olly vor einer Ziege, die sie in fassungsloser Angst zurückweichend anstiert, Ollychen die Ziege und die Ziege Ollychen. Diese flüchtende Bewegung ist häßlich, armselig, klein – glaubs nicht. Hänschen frißt Käse, und nie hätte man gedacht, dass der zartempfindende Mann sich so voll Liptauer stopfen könnte, in stillen Abendstunden säuselt er Gitarre. Glaubs nicht. Ein Bild sagt mehr …
Doch, du kannst es glauben.
Denn wahr ist gewöhnlich beides: der Liptauer und die Gitarre, Ollychen mit der Ziege und Ollychen mit der Seele. Aber um das Vollständige zu haben, tust du gut, dir deine Beschreibungen, deine Gespräche und deine Erfahrungen nicht von hunderttausend Worten illustrieren zu lassen, sondern von dem, was mehr sagt als sie: von einem Bild.
Veröffentlicht unter dem Pseudonym Peter Panter, in: Uhu, November 1926, Nr. 2, S. 75.