Graphic Novels gelten derzeit als Hoffnungsträger am deutschsprachigen Buchmarkt, und dies mag auch mit der durchaus anspruchsvoll wirkenden Bezeichnung zu tun haben, durch die das Produkt aus der Welt der Populärkultur herausgehoben erscheint. Allerdings wird unter dem bis heute nicht wirklich präzise definierten Begriff Graphic Novel sehr Unterschiedliches verstanden. Manche sehen darin nichts anderes als auf hochkulturell umetikettierte Comics, andere wieder eine eigenständige Kunstform, die aus der Vereinigung von Bild und Text resultiert. Bei allen ideologischen und kulturkritischen Positionsbestimmungen kann man den Begriff Graphic Novel ganz pragmatisch in zwei Richtungen festmachen: Man versteht darunter entweder eine neu verfasste Bildgeschichte mit künstlerischem Anspruch oder eine entsprechende Adaptierung bereits vorhandener, anerkannter Literatur.
Auch wenn die Umsetzung von klassischen Texten in gezeichneter Bildtext-Form im deutschsprachigen Raum ein noch relativ junges Phänomen ist, so gibt es international gesehen dieses Genre bereits relativ lange. In den USA wurde schon 1941 mit einer Bildversion von Dumas‘ „Die drei Musketiere“ die Serie „Classics Illustrated“ begonnen. In mehr als 160 Heften wurden in dieser Reihe bis 1969 Werke der Weltliteratur in Comicversion abgehandelt. Eines der letzten Hefte war Goethes „Faust“ gewidmet. In Frankreich wiederum sind die „bandes dessinées“ genannten Bild-Text-Bände bereits seit längerem eine allgemein anerkannte literarische Form.
2011 begann der Verlag Suhrkamp mit der Veröffentlichung von Graphic Novels, wobei der österreichische Zeichner Nicolas Mahler eine bedeutende Rolle spielte. Mit seiner Adaption von Thomas Bernhards „Alte Meister“ legte er für Suhrkamp gleich von Anfang an mit hintergründigem Humor und mit einem feinen, reduzierten Zeichenstil anspruchsvolle ästhetische Standards fest. 2013 setzte Mahler mit einer bildlichen Kürzestfassung von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ sein Engagement im Bereich der österreichischen Literatur fort.
Mittlerweile haben auch österreichische Verlage mit der Produktion von Graphic Novels begonnen. Einer der wichtigsten Protagonisten der diesbezüglichen heimischen Szene ist Reinhard Trinkler. Er wurde 1987 in Niederösterreich geboren, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien sowie „Comic & Animation“ an der Wiener Kunstschule. Seit 2010 hat Trinkler bereits sechs Comic-Bände zur populären Fernsehserie „Kottan ermittelt“ herausgebracht. 2014 folgten die von Hugo Wiener für Karl Farkas und Ernst Waldbrunn verfassten Doppelkonferencen in Comic-Form, im selben Jahr publizierte Trinkler gemeinsam mit Christian Qualtinger eine Comic-Fassung von „Der Herr Karl“, jenem legendären Einpersonenstück von Carl Merz und Helmut Qualtinger. Nun hat sich Reinhard Trinkler erstmals mit älterer Literatur befasst, und man kann den Versuch, Nestroys „Talisman“ entsprechend umzusetzen, als durchaus gelungen betrachten. Trinkler hält sich dabei ziemlich genau an den Originaltext , es gibt lediglich einige kleinere Umstellungen in der Abfolge der Szenen und minimale Kürzungen, sodass wie in einer guten Theaterinszenierung die Geschichte mit einiger Dynamik vorangetrieben wird.
Was die grafische Gestaltung betrifft, so setzt Reinhard Trinkler sehr stark auf seine Begabung als Porträtzeichner. Seine Protagonistinnen und Protagonisten tragen durchwegs die Gesichtszüge prominenter Schauspielerinnen und Schauspieler. So hat sich Trinkler in einer irrealen Inszenierung seine persönliche Traumbesetzung gezeichnet und fügt damit dem Stück auch noch eine spezielle komische Note hinzu, wenn da etwa Helmut Lohner, Elfriede Ott, Hilde Sochor, Gabriele Schuchter, Helmut Qualtinger, Heinrich Schweiger und Josef Meinrad auftreten. Es ist eine fiktive Theaterproduktion, die es sich auch „leisten“ kann, Hans Moser, Otto Tausig, Otto Schenk, Walter Langer oder Heinz Petters in Kleinstrollen einzusetzen, was dem Ganzen eine gewisse surreale Qualität verleiht.
Es bleibt zu hoffen, dass der Erfolg des vorliegenden Bandes noch weitere derartige „Nestroy-Produktionen“ möglich macht.
Johann Nestroy: Der Talisman. Graphic Novel von Reinhard Trinkler, Wien 2015.
Erstveröffentlichung der Rezension in: Nestroyana. Blätter der Internationalen Nestroy-Gesellschaft, 2015, Heft 3-4, S. 213f.