Anfang November 2016 wurde im Burgtor auf dem Wiener Heldenplatz die Ausstellung „Letzte Orte vor der Deportation“ eröffnet, in der vier sogenannte Sammellager[1] für Jüdinnen und Juden vor der Deportation näher dargestellt werden. Diese wenig bekannten Internierungslager vor der Deportation waren eine Zwischenstation, bis die Opfer zu je 1.000 Personen zum Aspangbahnhof gebracht wurden. Insgesamt 45 Züge gingen zwischen Februar 1941 und Oktober 1942 in die Vernichtungslager ab.
Seit der Veröffentlichung des Totenbuches von Maly Trostinec[2] 2015 sind nun die genaueren Umstände des tragischen Schicksals von Julius Klinger, dem neben Joseph Binder bedeutendsten österreichischen Grafikdesigner der Zwischenkriegszeit, und seiner Frau Emilie bekannt.
Der 66jährige Julius Klinger wurde mit seiner Frau am 2. Juni 1942 mit 997 anderen Personen nach Maly Trostinec bei Minsk deportiert. „Dieser Transport erreichte bereits am Freitag, 5. Juni den Bahnhof Minsk, wurde aber erst am Dienstag (!) der nächsten Woche ‚entladen‘. Bis zur ‚Entladung‘ bleiben die Waggons versperrt, die Insassen erhielten weder Essen noch Trinken. Und wurden direkt nach ihrer ‚Entladung‘ in Minsk und Ankunft in Maly Trostinec ermordet.“[3] Als Todesdatum gilt der 9. Juni 1942. Niemand hat diesen durch die Wiener „NS-Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ organisierten Transport überlebt.
Davor lebte das Ehepaar Klinger in einer Sammelwohnung in der Adlergasse 4, einem 1875 von Ferdinand Fellner und Hermann Helmer erbauten historistischem Gebäude mit Pawlatschenhof.[4] Insgesamt wurden 15 Personen dieses Hauses nach Maly Trostinec deportiert und ermordet.[5]
In der Zeit davor wurde das Leben der Jüdinnen und Juden Wiens immer mehr eingeschränkt. Ab Juni 1938 durften sie keine Parkanlagen mehr betreten, ab September 1939 wurde ein Ausgehverbot ab 8 Uhr abends erlassen und der Besitz von Radioapparaten verboten. Ab Mai 1939 wurde die fristlose Kündigung jüdischer Mieter und Mieterinnen durch eine neue Verordnung möglich. Seit wann das Ehepaar Klinger gezwungen war, in der Adlergasse zu wohnen, wissen wir nicht. Im Juli 1940 wurde die Benutzung von Telefonanschlüssen untersagt, im September mussten sie dann den „Judenstern“ tragen. Im September 1941 mussten Schreib- und Rechenmaschinen, Fahrräder, Fotoapparate und Ferngläser abgeliefert werden, im Februar 1942 wurde der Bezug von Zeitungen und Zeitschriften verboten und im März 1942 wurde schließlich auch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel untersagt.[6]
In der Zeit nach dem „Anschluss“ versuchte Klinger verzweifelt, weiter beruflich tätig zu sein. Ende Mai 1938 schaltete er eine Anzeige in der „Zionistischen Rundschau“.[7] Er bot Unterricht in Advertising- und Commercial-Art an, wobei er seinen in Fachkreisen wohlbekannten Namen fett drucken ließ. Gleichzeitig führte er in seinem Atelier „Kurse für Gebrauchsgraphik“ von April bis Oktober 1938 durch und wurde dabei von seinem langjährigen Freund, dem Architekten Rudolf Hönigsfeld, in den Fächern Geschäftsportalbau, Schaufenstergestaltung und Ausstellungsbau unterstützt.[8] Wie viele Personen sich auf diese Annonce hin meldeten, ist nicht bekannt. Letztmalig wurde Klingers langjährige Wohn- und Atelieradresse während der Zwischenkriegszeit – Wien I, Schellinggasse 6[9] – in Adolph Lehmanns allgemeinen Wohnungs-Anzeiger 1939 nachgewiesen.
Eines der wohl letzten, wenn nicht das letzte Plakat überhaupt, das Julius Klinger zur Jahreswende 1937/1938 entwarf, ist ein imposantes 12-Bogen-Plakat (250 x 278 cm) für die Wiener Großbäckerei Ankerbrot. Mit riesigen Ziffern kündet es im bewährten sachlich-modernen Klinger-Stil das neue Jahr 1938 an, ohne ein spezielles Produkt visuell in den Vordergrund zu heben. Eine starke Marke hoffte mit diesem Plakat auf Kundentreue auch im neuen Jahr. Die heutige Wirkung auf den Betrachter ist eine gänzlich andere als vom Autor und dem Unternehmen beabsichtigt. Wir wissen selbstverständlich, dass es 1938 zum „Anschluss“ Österreichs an Hitlers Deutsches Reich kam und damit direkt und indirekt auch das Schicksal der Jüdinnen und Juden besiegelt wurde, und wir kennen den Leidensweg, der Julius Klinger bevorstand. Die Firma Ankerbrot wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ von Nationalsozialisten übernommen und „arisiert“ und gleichzeitig das Monogramm „HFM“ aus dem Firmen-Logo entfernt, das für die Unternehmensgründer Heinrich und Fritz Mendl stand. In Zeitungsinseraten konnte man lesen: „Die Ankerbrotfabrik AG hat ab 15. März 1938 eine rein arische Leitung und beschäftigt 1.600 arische Mitarbeiter.“[10]
Im letzten Jahr des freien und unabhängigen Österreichs gestaltete Julius Klinger ein weiteres sehr sachlich-aufgeräumtes Plakat in staatlichem Auftrag, nämlich für die Österreichische Investitionsanleihe 1937. Das Hauptziel der Investitionsanleihe war vor allem die Verbesserung der Infrastruktur, konkret die Elektrifizierung der Bundesbahnen und der Ausbau der Bundesstraßen wie schon durch die Österreichische Trefferanleihe 1933 und die Österreichische Arbeitsanleihe 1935, für die ebenfalls Julius Klinger Plakatmotive geschaffen hatte – alle in den Farben Rot-Schwarz gehalten: Ein Meisterwerk der Reduktion. In Zusammenhang mit diesem Plakat ist auch ein letztes Foto des 60jährigen Julius Klinger dokumentiert, das ihn vor einer Plakatwand mit seinem großformatigen Investitionsplakat, gemeinsam mit seiner Frau Emilie, Anfang des Jahres 1937, zeigt. Selbstbewusst in die Kamera blickend mit einer Zigarette in der Hand und in eleganter Winterkleidung wird er quasi von seinem „i“, das auch eine Person eines Anleihekäufers symbolisieren könnte, typografisch umarmt.
Die letzte Ausstellung zu Lebenszeiten von Julius Klinger, in der Arbeiten von ihm zu sehen waren, fand – eine Ironie des Schicksals – in der Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschen Reichs statt. Exakt zum Zeitpunkt, als in Wien das Foto vor dem Plakat der Investitionsanleihe entstand, fand in seiner ehemaligen langjährigen Wirkungsstätte Berlin eine Ausstellung mit dem Titel „Das jüdische Plakat“ statt. Im Jüdischen Museum wurden Anfang 1937 Plakate von jüdischen Künstlern aus der Sammlung von Hans Sachs, dem bedeutendsten deutschen Plakatsammler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gezeigt. Neben Arbeiten von Lucian Bernhard, Louis Oppenheim oder Paul Leni wurden auch Julius Klingers Plakate aus seiner Berliner Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ausgestellt.[11]
[1] Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Michaela Raggam-Blesch: Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien. Wien 2015.
[2] Waltraud Barton (Hg.): Maly Trostinec – Das Totenbuch. Den Toten ihre Namen geben. Wien 2015.
[3] Ebd. S. 115.
[4] Vgl. https://www.memento.wien/address/1/ (20. 11. 2016). Das Haus wurde 1945 durch einen Bombentreffer schwer beschädigt und 1958/61 zum Kai hin neu errichtet, heutige Adresse: Franz-Josephs-Kai 21.
[5] Ebd. S. 264.
[6] Zeittafel in der Ausstellung „Letzte Orte vor der Deportation“.
[7] Ausgabe vom 27. Mai 1938. Die “Zionistische Rundschau” erschien vom 20. Mai 1938 bis 4. November 1938, ab 3. Februar 1939 fungierte als Nachfolger das „Jüdische Nachrichtenblatt – Ausgabe Wien“ bis 4. Juni 1943.
[8] Empfehlungsschreiben von Julius Klinger vom 3. März 1939. Wienbibliothek.
[9] Das streng historistische Haus wurde im Jahr der Wiener Weltausstellung 1873 von Ludwig Tischler erbaut.
[10] Christian Rapp, Markus Kristan: Ankerbrot. Die Geschichte einer großen Bäckerei. Wien 2011, S. 76.
[11] Olga Bloch: Das jüdische Plakat. Zur Ausstellung des Berliner Gemeinde-Museums. In: Central-Verein-Zeitung. Allgemeine Zeitung des Judentums vom 4. März 1937, S. 6. Im Folgejahr wurde die Plakatsammlung von den Nazis konfisziert und Hans Sachs emigrierte in die Vereinigten Staaten.