Fast jeder Wiener kennt den „Fritzelackbuben“, das Plakat der Lack- und Farbenfabrik Fritze, das einen Buben zeigt, der mit seiner Farbendose gestürzt ist und bäuchlings am Boden liegt. Er findet sich sogar auf einer Briefmarke und in Wiener Wörterbüchern als Ausdruck für einen auf den Bauch gestürzten Skifahrer oder Eisläufer („den Fritzelack machen“).
Aber fast niemand kennt den Namen des Schöpfers dieses Plakates: Adolf Karpellus. Er lebte von 1869 bis 1919 und war um 1900 ein bekannter und viel beschäftigter Grafiker und Maler. Als Plakatkünstler wurde er bis in die jüngste Zeit in Ausstellungen und Abhandlungen wiederholt gezeigt bzw. genannt, u.a. im Jahr 2014 von Bernhard Denscher auf seiner Website AUSTRIAN POSTERS. Hier wird er als Maler von Porträts, Landschaften, Stillleben und Genrebildern erwähnt. Ich besitze auch einige Beispiele für seine Tätigkeit als Buchillustrator. In der folgenden Darstellung geht es mir um eine wichtige Ergänzung, nämlich um die von mir erst vor kurzem entdeckten Karikaturen und humoristischen Zeichnungen.
Adolf Karpellus ist mein Großvater. Aus dem Nachlass seiner Frau kamen ca. 40 Briefe in meinen Besitz, die er an seine Braut und spätere Ehefrau geschrieben hat, in denen er sich auch mit seiner Kunst und dem Kunstbetrieb seiner Zeit intensiv auseinandersetzt. Durch diese Briefe lernte ich einen sensiblen, kunstbegeisterten Menschen kennen, der seine Zeit bewusst erlebte, analysierte und in seinen Werken widerspiegelte. Und es war eine interessante Zeit um 1900, das „Fin de siècle“, geprägt von den letzten Jahren der Habsburgermonarchie. Diese Zeitenwende wurde begleitet von einem totalen Umbruch einer erstarrten Gesellschaftsordnung.
Seine über 100 Gemälde sind konservativ und der Tradition verhaftet – obwohl er sich selbst durchaus als Neuerer sieht. Er entschied sich als Mitglied des „Siebenerklubs“, als dieser sich spaltete, bewusst gegen die „Secessionisten“ und war Mitglied des konservativen Wiener Künstlerhauses. Aber viele seiner Plakate zeigen, dass er sich doch mit der Secession und dem Jugendstil auseinandersetzte.
Seinen Lebensunterhalt verdiente er – außer mit der Plakatmalerei – mit der Herstellung von Postkarten (viele davon sind noch heute im Ansichtskartenhandel erhältlich), mit Buchillustrationen und mit Zeichnungen für das Wiener humoristische Wochenblatt „Figaro“ bzw. seine Beilage „Wiener Luft“.
Von diesen Zeichnungen wusste ich bis vor kurzem nur aus den obengenannten Briefen. Sie sind über zehn Jahrgänge von je 52 Heften verteilt. Glücklicherweise wurde der „Figaro“ in den letzten Jahren vollständig digitalisiert und so konnte ich alle Hefte am Bildschirm durchblättern. Zu meinem Erstaunen fand ich ca. 300 humoristische Zeichnungen von Adolf Karpellus aus den Jahren 1895 bis 1905.
Er behandelt hauptsächlich gesellschafts- und sozialkritische Themen. Mit seinem typischen Humor, seiner Begabung für Details, seinem Interesse für Gesichter und Mimik bringt er alles zu Papier, was für die zerbröckelnde bürgerliche Gesellschaft typisch ist: Doppel- und Scheinmoral, Standesdünkel, ein Frauenbild, das die Frau allein über ihre Rolle als Hausfrau und Mutter definiert. Um diese Rolle zu erfüllen, muss sie möglichst bald eine möglichst gute Partie machen, finanziell hängt sie ganz von ihrem Mann ab. Der Mann muss ein standesgemäßes Leben führen bzw. seiner Familie bieten können, Geldsorgen werden oft durch Mitgiftjägerei gelöst. Tratsch und Klatsch blühen. Die starren Strukturen und entleerten Wertvorstellungen geraten ins Wanken: Es gibt erste Zeichen von Emanzipation, des Ausbrechens aus dem engen Rahmen, des Aufbegehrens der Dienstboten gegen ihre Herrschaft, der Kinder gegen ihre Eltern, der sozialen Randgruppen gegen die Obrigkeit. Was für ein ergiebiges Material für einen Karikaturisten! Karpellus kostet sie aus. Schauplätze der gezeichneten Szenen sind neben dem bürgerlichen Heim das Wirtshaus, das Gericht, das Theater – um die wichtigsten zu nennen. Ständig wiederkehrende Typen sind bei den Frauen: Mädchen auf Männerfang, listige Gattinnen, freche Dienstmädchen, alte Jungfern und rebellische Kinder. Bei den Männern sind es Protze und Angeber, Schürzen- und Mitgiftjäger, auch Kunstbanausen. Unter den Berufsgruppen wird vor allem das k.u.k. Militär und der „Zauber der Montur“ aufs Korn genommen (Karpellus entstammt einer Offiziersfamilie), aber auch devote Angestellte, schmuddelige Wirte, fiese Anwälte und andere Typen. Bettler und Strolche zeigen die sozialen Probleme. Nie zeichnet er bissige, übertrieben verzerrte Karikaturen, sondern immer reale Szenen aus dem täglichen Leben mit Betonung von Mimik und Körperhaltung. Bei aller Kritik ist sein Verständnis für menschliche Schwächen spürbar.
Der oben beschriebene gesellschaftliche Umbruch ist so radikal, dass man kaum glauben kann, dass seither erst zwei bis drei Generationen vergangen sind. Erstarrtes und Unerwünschtes ist glücklicherweise verschwunden und das ist vielen Vorkämpfern einer Erneuerung zu verdanken, nicht zuletzt auch Karikaturisten wie Karpellus, die mit Stift und Feder auf die Schwachpunkte zeigten. Man wird dieser Zeit nicht nachtrauern, aber man sollte interessiert zurückblicken und darf sich auch nach den Zwängen fragen, die uns Heutige bestimmen.
Roswitha Seidelmann (geb. Karpellus)