„Plakate sind durch künstlerische Mittel wirkende Tendenz“, schrieb der renommierte Autor Joseph Roth in seinem Essay über die „Sowjetausstellung in Berlin“ im Jahr 1920 in der „Neuen Berliner Zeitung“. Das Medium Plakat war und ist stets von diesem Spannungsfeld zwischen Kunst und Funktion bestimmt. Lange Zeit war das Bildplakat deutlich von den jeweils aktuellen allgemeinen künstlerischen Trends geprägt, dennoch nahm die Bildsprache der Werbung allmählich eine eigenständige Entwicklung.
Über Jahrhunderte war es in Europa selbstverständlich gewesen, dass Künstler ihre Werke nur auf Bestellung und im Sinn der Tendenz ihrer Finanziers schufen: Kirche und Adel waren da die wesentlichen Auftraggeber, bis im 18. Jahrhundert das wohlhabende Bürgertum als wichtiger Faktor hinzukam. Die Geschichte der Kunst des 19. Jahrhunderts stand dann im Zeichen der Emanzipation der Künstlerschaft, der damit eine – nachweislich riskante – Loslösung von derartigen direkten Abhängigkeitsverhältnissen gelang. Um 1850 wurde ausgehend von Frankreich der Ruf nach „L’art pour l‘art“ laut, also nach einer Kunst um ihrer selbst willen. Echte Kunst sollte in keinem Auftragsverhältnis mehr stehen, sondern frei aus sich heraus und für sich geschaffen werden. Diese Ideologie, die mit einem Verdrängen des traditionellen Handwerks durch die industrielle Produktion einherging, führte zu einem deutlichen Prestigeverlust der sogenannten „angewandten Kunst“. Walter Benjamin brachte es in seiner legendären Studie „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ auf den Punkt: „Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.“ Eine Aussage, die besonders auf das in großen Mengen verbreitete Medium Plakat zutrifft.
Bewertungen wie diese mögen auch erklären, warum das Plakat als künstlerisches Statement nur zeitweise eine entsprechende soziale und ästhetische Anerkennung fand. Als ein kostenlos für alle Straßenbenutzer zugängliches Medium tat es sich schwer, in den elitären bürgerlichen Kunstkanon aufgenommen zu werden. Erste, noch vom Historismus geprägte Entwerfer von Bildplakaten versuchten daher, dem Medium mit Anklängen an alte Urkunden einen wertvolleren Charakter zu verleihen. Ein Beispiel dafür ist die frühe Affiche des renommierten österreichischen Malers Hans Makart für die „Erste internationale Kunst-Ausstellung“, die 1882 im Wiener Künstlerhaus stattfand. Doch gerade Versuche wie dieser zeigen, dass solche Blätter aufgrund ihrer kompositorischen Detailliertheit zu keinen überzeugenden plakativen Ergebnissen führen konnten.
Der wichtigste Protagonist des neuen modernen Bildplakates war der Franzose Jules Chéret – und er war, was das Renommee des Genres aus der Sicht traditioneller Kunstrezeption nicht heben konnte, ein Praktiker aus dem Bereich des Druckerhandwerks. Der gelernte Lithograph entwarf und produzierte um die 1000 Farbplakate. Aufgrund seines überragenden Erfolges im Bereich des neuen Mediums wurde er gar zum König ausgerufen, allerdings nur zum „roi des affiches“ – zum Plakat-König. Stets war er um sein künstlerisches Renommee bemüht. So orientierte er sich an Vorbildern aus der Kunstgeschichte, wie den Rokokomalern Antoine Watteau und Jean-Honoré Fragonard, oder an dem spätbarocken Giovanni Batista Tiepolo, was Chéret auch den Beinamen „Tiepolo des Boulevards“ einbrachte.
Der Adelige Henri de Toulouse-Lautrec konnte da schon aufgrund seiner sozialen Herkunft eine mutigere Strategie verfolgen: Er überschritt in seinen Arbeiten nicht nur die ästhetischen, sondern auch die moralischen Vorstellungen des Bürgertums. Nicht mehr hochstehende – wie etwa mythologische oder religiöse – Themen waren die Inhalte seiner Kunst, sondern sehr reale Menschen aus dem Alltagsleben. Doch damit nicht genug – auch seine Kunst selbst ging auf die Straße. Toulouse-Lautrec beschäftigte sich nämlich intensiv mit der Gestaltung von Plakaten und dies nicht nur nebenbei, wie es viele seiner Kollegen taten, wenn sie Geld benötigten, sondern seine Plakate gehören zweifellos auch zu seinen Hauptwerken.
Beeinflusst vom britischen Arts and Crafts Movement versuchte man in verschiedenen künstlerischen Bewegungen der Jahrhundertwende, wie etwa im Art Nouveau, im deutschen und österreichischen Jugendstil und in dieser Folge dann auch in der Wiener Werkstätte sowie beim Deutschen Werkbund, die beiden Elemente Kunst und Alltag enger miteinander zu verbinden. So gestaltete etwa der Gründungspräsident der Wiener Secession, Gustav Klimt, nicht nur das Signet seiner Vereinigung, sondern auch das Plakat für deren erste Ausstellung im Jahr 1898. Noch einen Schritt weiter ging sein Kollege und Gründungsmitglied der schon vor der Wiener entstandenen Münchner Secession, Franz von Stuck, der mit seinem Plakat für die Dresdner Hygiene Ausstellung einen Auftrag aus dem kommerziellen Bereich übernommen hatte.
Keinerlei Berührungsängste zum Design von Alltagsdingen hatte der Architekt der Wiener Secession Joseph Maria Olbrich. Seine Entwurfsarbeiten reichten von Architektur über Buchillustrationen, Alltagsgegenstände, wie Öfen und Textilien, bis zu einer Autokarosserie für Opel. Im Bereich des Grafikdesigns gestaltete er nicht nur das Plakat für die zweite Schau der Secession, sondern übernahm auch wiederholt kommerzielle Werbeaufträge.
Aufgrund der neu entstandenen industriellen Massenproduktion entwickelte sich in den USA und in Europa die Notwendigkeit einer zielgerichteten Bewerbung des immer reichhaltiger werdenden Konsumangebots. So entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein erster globaler Hype des Mediums Plakat. Angesichts dieses Trends, aber auch aufgrund der Entwicklung anderer Bildmedien – wie etwa illustrierter Zeitschriften, Ansichtskarten oder Buchcover – formierte sich allmählich ein eigener Berufsstand, der sich auf das Entwerfen von kommerziellen Grafikaufträgen spezialisierte.
Wirklich Sinn machte Außenwerbung vor allem in den anwachsenden Großstädten, wo daher eine Reihe von Designern eine Formensprache entwickelte, die eine wirkungsvolle Werbung ermöglichte. Berlin war noch vor dem Ersten Weltkrieg einer dieser Brennpunkte, denn hier wurden mit dem sogenannten „Sachplakat“ Kriterien der Bildwerbung kreiert, die bis heute Gültigkeit haben. Der wesentliche Aspekt dieser Strategie war es, das zu verkaufende Produkt deutlich in den optischen Mittelpunkt zu stellen.
Ein Protagonist dieser Strategie der visuellen Vereinfachung war der Deutsche Lucian Bernhard, der ab 1925 in New York tätig war. Zur modernen Berliner Szene zu Anfang des 20. Jahrhunderts gehörten neben einigen anderen auch die beiden aus Wien stammenden Grafiker Ernst Deutsch-Dryden und Julius Klinger. Auch wenn man sich auf kommerzielle Werbung spezialisierte und Wert darauf legte, keine Kunstwerke schaffen zu wollen, sondern einfach professionelle Reklame zu produzieren, wird deutlich, dass gerade die Berliner Plakatszene bereits ab 1905 ästhetische Prinzipien erarbeitete, die erst Jahre später in der Kunstrichtung der „Neue Sachlichkeit“ wieder aufschienen.
Eine andere künstlerische Richtung, von der starke Impulse auf die Plakatgestaltung ihrer Zeit ausgingen, war der Expressionismus. Die für ihn typische Dynamik eignete sich gut für die Anforderungen der Kinowerbung und bot ebenso für die dramatischen Appelle der politischen Propaganda eine adäquate Ausdrucksform. Eindrucksvoll bewies dies Mihály Biró mit seinen frühen Plakaten, die er für die ungarischen Sozialdemokraten bereits ab dem Jahr 1912 schuf. In Deutschland bekam die Entwicklung der politischen Werbung, ähnlich wie in Österreich, erst nach der Gründung der Republik im Jahr 1918 entsprechende Impulse. Die zunächst links dominierte Regierung gründete den „Werbedienst der deutschen Republik“, von dem bedeutende expressionistische Künstler, wie Heinz Fuchs, Cesar Klein oder Max Pechstein, mit dem Entwurf von Plakaten beauftragt wurden. Damit schufen diese Künstler über die Mediengeschichte des Plakates hinaus viel beachtete Werke.
Eine andere visuelle Linie verfolgten die Propagandisten der frühen Sowjetunion, wo der Konstruktivismus mit seinen klar reduzierten Formen und seinen wenigen, aber kräftigen Farben dominierte: El Lissitzky, Alexander Rodtschenko und Wladimir Majakowski lauten die Namen der prominentesten Proponenten dieser Kunstrichtung, die mit ihren Plakaten Klassiker der modernen Kunst kreierten. Der Konstruktivismus konnte sich in der UdSSR selbst allerdings nur relativ kurz entfalten und wurde bald durch den konservativen sozialistischen Realismus abgelöst. In den 1920er und 1930er Jahren entwickelten sich dem russischen Konstruktivismus ähnliche, geometrisch abstrahierende Stilrichtungen, wie etwa „De Stijl“ in den Niederlanden oder das „Bauhaus“ in Deutschland. Auch diese Strömungen gingen von einem sehr weiten, alle menschlichen Lebensbereiche umfassenden Kunstbegriff aus. Unter anderem wurden dabei auch Elemente der Gebrauchsgrafik erarbeitet, die etwa mit den Arbeiten von Jan Tschichold oder Herbert Bayer eine breite internationale Anerkennung fanden. Viele hervorragende europäische Künstler flüchteten vor der nationalsozialsozialistischen Repression in die USA, wo sie den „American Modernism“ mitprägten – ein Erscheinungsbild, das dann nach 1945 wieder als typisch „amerikanischer Stil“ in Europa rezipiert wurde.
Der Art déco war eine der letzten Kunstrichtungen, die sich auch auf die Werbegrafik seiner Zeit auswirkte. Seinen Namen hat dieser Stil von der 1925 in Paris abgehaltenen „Exposition internationale des Arts Décoratifs et industriels modernes“. Art déco blieb dabei nicht nur eine französische Spezialität, sondern war von den 1920er bis in die 1940er Jahre eine weltweite Erscheinung. Das reicht von Produkten der Wiener Werkstätte und Entwürfen des Deutschen Werkbundes über Architektur in den Vereinigten Staaten bis zu Bauten in der Sowjetunion.
Ab den 1950er Jahren entwickelten die Grafikdesigner nicht nur eigenständige Gestaltungs- und Stilformen, sondern auch ein Berufsbild, das sich im Umfeld der zahlreich entstandenen Werbeagenturen noch deutlicher vom Selbstverständnis der sogenannten „freien“ Künstlerschaft absetzte. Unter dem kommerziellen Druck des „Wirtschaftswunders“ entstand in der westlichen Welt der 1960er Jahren das Bedürfnis, den in großen Mengen produzierten Waren eine entsprechende ästhetische Qualität zu verleihen, um so im zunehmenden Konkurrenzkampf bestehen zu können. Im Zuge dieser Entwicklung wurde dem Design wieder eine bedeutendere Rolle zugestanden. Ein wesentlicher Markstein für diese Neuinterpretation des Kunstkanons war die Documenta III im Jahr 1964 in Kassel, bei der neben den Anfängen der Pop Art auch in einem eigenen Ausstellungsbereich „Industrial Design“ und angewandte „Graphik“ gezeigt wurden.
Werbung und andere populäre optische Medien hatten in den 1960er Jahren eine derartige Bedeutung erlangt, dass in deren Rezeption mit der Pop-Art eine neue internationale Kunstrichtung entstanden war: Die Grafikdesigner der Pop-Generation gingen wiederum in ihrer Rezeption früherer Kunst-Avantgarden so weit, dass sie ihre Plakate in der Formensprache des Jugendstils gestalteten. Die Verbreitung der Plakate war damals nicht nur auf die Straßen beschränkt, sondern sie waren auch als Dekor in vielen Innenräumen präsent. Das Pop-Art-Poster wurde damit zu einem wesentlichen Sprachrohr der Jugendkultur der sechziger und siebziger Jahre.
Angesichts der zunehmenden Erweiterung des Kunstbegriffes gegen Ende des 20. Jahrhunderts fand das Plakat im Rahmen der Kunst im öffentlichen Raum wieder eine höhere Wertschätzung. Der renommierte österreichische Künstler Heimo Zobernig beschrieb die Ambivalenz des Themas treffend: „Das Plakat ist ein Medium der Kunst wie viele andere auch. Das Plakat muss in erster Linie in der Konkurrenz der Plakate bestehen. Die Wahrnehmung als Kunst ist bei einer Arbeit im öffentlichen Raum nicht wichtig, sie ist eine Leistung des Betrachters, der den Kontext mitherstellt.“
Denscher, Bernhard: Berührungspunkte. Plakate im Spannungsfeld von Kunst und Tendenz, in: designaustria-Mitteilungen 2014/2, S. 5-7.