Anfang des Jahres 1938 sitzt wohl der renommierte Grafikdesigner Hermann Kosel in seinem Atelier im Hochhaus in der Herrengasse und entwirft ein Cover für die Berliner Zeitschrift „Gebrauchsgraphik“ für die Ausgabe vom März 1938, um das zehnjährige Bestehen des Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker (BÖG) zu illustrieren. Das Sujet fällt sehr österreichisch aus, ein Tourismusplakat für das schöne „Austria“ mit einer Frau in Tracht vor alpiner Kulisse. Die Affiche ist auf einer alten Holzwand aufgepinnt. Kurz nach dem Erscheinen wird „Austria“ zum Unwort. Viele der rund 50 versammelten Grafikerinnen und Grafiker, die sich mit Arbeiten im Heft finden, werden kaum Probleme mit dem Nationalsozialismus haben, wenige gehen in die Emigration. Letztmalig werden auch Arbeiten von jüdischen Mitgliedern des BÖG, wie Hans Neumann, Julius Klinger, Kurt Libesny und Hansi Lehner-Rosner, in der Zeitschrift, die ihren Sitz in der Berliner Wilhelmstrasse unweit von Hitlers Reichskanzlei hat, abgebildet.
Es gab Plakatkünstler, die ab März 1938 als Juden verfolgt wurden, wie der langjährige Präsident des BÖG, Kurt Libesny, der ins amerikanische Exil getrieben wurde und kurz nach seiner Ankunft in New York starb. Julius Klinger, der Spiritus Rector des österreichischen Grafikdesigns nach 1918, wurde von den Nazis 1942 deportiert und in Maly Trostinec ermordet.[1] Es gab Grafikdesigner, die in die innere Emigration gingen, wie Viktor Theodor Slama, und die bis 1945 kaum auf ihrem angestammten Gebiet weiterarbeiteten. Der eingangs erwähnte Hermann Kosel ging wegen seiner jüdischen Frau im September 1938 ins Schweizer Exil und lebte ab 1939 in Südfrankreich.
Und es gab Opportunisten, überzeugte Nationalsozialisten mit oder ohne Mitgliedschaft und wohl auch Verbrecher. Franz Griessler (1897–1974) etwa wechselte einfach die Seiten. Er war lange Jahre für das Rote Wien und das Plakatierungsunternehmen Gewista tätig, später entschied er sich für das menschverachtende Nazi-Regime, wurde NSDAP-Mitglied und flüchtete schließlich 1947 nach Südamerika, weil er einen Volksgerichtsprozess zu befürchten hatte und ihm Erschießungen von russischen Kriegsgefangenen zur Last gelegt wurden. Auch Lois Schafler († 1954) drohte ein Prozess vor diesem außerordentlichen Gerichtshof, der nach Ende des Zweiten Weltkrieges von 1945 bis 1955 zur Ahndung von NS-Verbrechen eingerichtet worden war. Schafler, illegales NSDAP-Mitglied, war an der „Arisierung“ der Druckerei Rosenbaum beteiligt und wurde am 31. Mai 1938 vom Staatskommissar in der Privatwirtschaft zum kommissarischen Verwalter der Firma Brüder Rosenbaum bestellt.[2] 1948 trat er aus dem Bund Österreichischer Gebrauchsgraphiker aus, um einem Ausschluss aus der Standesvertretung zuvorzukommen.[3] Noch 1952 schuf er Plakate für die Österreichische Volkspartei.
An illegalen Nationalsozialisten und NSDAP-Mitgliedern mangelte es unter den Plakatkünstlern nicht. Und die gab es nicht nur in Wien, sondern auch in den Bundesländern. Der Steirer Heinz Reichenfelser (1901–1969), langjähriger Werbeleiter des Kaufhauses Kastner & Öhler, war bereits ab 1932 NSDAP-Mitglied, wie die verdienstvolle Ausstellung „Die Kunst der Anpassung. Steirische KünstlerInnen im Nationalsozialismus zwischen Tradition und Propaganda“ 2010 dokumentierte. Nach einer Internierung im Lager Glasenbach als ehemaliger Nationalsozialist arbeitete er ungehindert im Sinne seines Weltbildes weiter: Er war Mitbegründer der bis heute existierenden rechtsextremen Zeitschrift „Aula“ und illustrierte zahlreiche Bücher des einschlägig bekannten Leopold Stocker Verlages.[4]
Ein Blättern in der damals führenden deutschen Fachzeitschrift „Gebrauchsgraphik“ fördert Bemerkenswertes zutage. Im Heft vom März 1943 – also zu einem Zeitpunkt, als die 6. Armee der Wehrmacht vor Stalingrad kapitulierte und Berlin heftig bombardiert wurde – gab es einen monografischen Artikel über Heinz Reichenfelser. Darin findet sich ein Tourismusplakat für das Reiseland Österreich aus austrofaschistischer Zeit, wie man unschwer am Doppeladler erkennen kann, obwohl zu dieser Zeit das Wort „Österreich“ – inklusive des rot-weiß-roten Bindenschildes – absolut tabu war. Hat das die Zeitungsredaktion übersehen? Nichts deutet auf dem Plakat auf nationalsozialistische Inhalte – nur die schöne österreichische Landschaft ist zu sehen. Alle anderen abgebildeten Arbeiten Reichenfelsers weisen allerdings explizit nazistische Inhalte auf, wie das Plakat „Lerne Deutsch“, das sich an die bedrängte slowenische Bevölkerung richtete, genauer an die historische „Untersteiermark“. Dass der Slogan „Lerne Deutsch“ nicht ganz an Aktualität verloren hat, ist allerdings eine andere Geschichte.
Sein wesentlich bekannterer steirischer Berufskollege Hanns Wagula (1894–1964) zeigte ebenfalls Sympathien für den Nationalsozialismus, wurde NSDAP-Mitglied und schuf zahlreiche Werke mit nationalsozialistischer Bildsprache, obwohl er gegen Ende des Kriegs eine distanzierte Position zum Regime einnahm.[5] Seine – selbstverständlich zeittypische – Bildsprache bleibt dabei relativ unverfänglich, nur aufgrund der Texte ist die Zuordnung in die Zeit des Nationalsozialismus eindeutig, wie etwa beim Plakat „Steiermark deutsches Südland“ von 1939, bei dem ein Wanderer in die unberührte Bergwelt blickt.
Wenn es um die grafische Gestaltung von Bergpanoramen geht – nicht nur in Plakatform –, fällt sofort der Namen Heinrich Berann (1915–1999), der es auf diesem Gebiet zu einer wahren Meisterschaft gebracht hatte. Nach 1945 gab fast jede Region und jede Skisport-Destination ein anschauliches Panorama bei Berann in Auftrag. Die Erfolgsgeschichte begann mit dem touristischen Prestigeprojekt des Austrofaschismus, der Großglockner-Hochalpenstraße. Noch vor der Eröffnung der Straße wurde Berann 1934 beauftragt, einen Werbefolder zu entwerfen. Darin befand sich seine allererste Panoramadarstellung, um den Straßenverlauf zu visualisieren. Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme tauschte er am Cover des Folders die rot-weiß-rote Fahne gegen eine Hakenkreuzflagge aus, und der Folder wurde neu aufgelegt.[6]
Eine Mitgliedschaft bei der NSDAP kann bei ihm nicht nachgewiesen werden, seine Begeisterung für den Nationalsozialismus und für Hitler steht aufgrund der Quellenlage allerdings außer Zweifel, schuf er doch zwei zentrale Werke, die den „Anschluss“ Tirols an das Deutsche Reich bejubeln und die in der damaligen Tagespresse ausführlich besprochen wurden. Dabei handelt es sich einerseits um die Votivtafel „Den Gefallenen der Nationalsozialistischen Partei in Österreich von 1934“, die im März/April 1938 im Schaufenster der Kunsthandlung Unterberger in Innsbruck ausgestellt wurde. Das Bild zeigt eine adaptierte Pietà-Darstellung. Eine trauernde Mutter hält ihren toten Sohn, einen illegalen Nationalsozialisten mit nacktem Oberkörper und einer drapierten Hakenkreuzfahne, in den Armen.[7] Das Bild wurde von einer Innsbrucker SA-Brigade angekauft und im April 1938 Adolf Hitler als Geburtstagsgeschenk überreicht. Andererseits schuf er ein Führerbild, das Adolf Hitler mit Offiziersmantel an einem Rednerpult stehend zeigt.[8] Die nationalsozialistische Presse bejubelte das Portrait: „Das Gesicht des Führers ist dem grellen Schein entzogen. Der Blick ist in die Ferne gerichtet, als sehe er die Zukunft. Edel ist die Haltung, edel der Ausdruck, der sich im Antlitz spiegelt. Die Runen des Wissenden haben sich in das Gesicht gegraben.“[9] Im Frühjahr 1940 war das Ölbild in der Kunsthandlung Czichna in der Innsbrucker Altstadt ausgestellt.
Wie unterschiedlich Karrieren in jenen Jahren verlaufen konnten, zeigt ein Beispiel aus Tirol und zweier Plakate mit ganz ähnlichen Sujets. In der Regel präsentierten Tiroler Tourismusplakate die schöne Bergwelt dieses Bundeslandes. Im Herzen der Alpen gelegen, warb Tirol bereits in der Zwischenkriegszeit um sommerliche Gäste. Im Abstand von rund zehn Jahren erschienen zwei außergewöhnliche Plakate, die das Fenster eines Tiroler Bauernhauses ins Zentrum stellen und nicht vordergründig die schöne Landschaft.
Das erste aus der Zeit um 1930 stammt von Johannes Troyer (1902–1969) und zeigt eine Frau in Tracht, die aus dem Fenster auf die nicht sichtbare Landschaft blickt. Ein Geranienstöckl am Fensterbrett fungiert als heute nicht mehr so leicht zu identifizierendes Symbol für Tirol. Vielleicht sind die Geranien auch eine Hommage an Paul Cézanne, der diese Pflanzen häufig gemalt hat. Der weiße Fassadenanstrich betont die Rahmung des Bildmotivs. Stilistisch lassen sich Anleihen bei Albin Egger-Lienz und Alfons Walde unschwer erkennen. Selbst wenn der Landesname fehlte, wäre wohl die erste Vermutung, dass hier für das Urlaubsparadies Tirol geworben wird.
Das zweite Plakat, mit dem im gesamten Deutschen Reich für Tirol geworben wurde, stammt von Oswald Haller (1908–1989) für die Sommersaison 1940, als der Zweite Weltkrieg bereits den Alltag bestimmte. Doch davon ist auf dem Plakat nichts zu merken. Ist es Propaganda, die vom Krieg ablenken und eine heile Welt vorspiegeln sollte? Das sich international gebende „Y“ im Wort „Tyrol“ wurde wieder gegen ein „I“ getauscht, denn um englischsprachige Gäste wurde aus naheliegenden Gründen nicht mehr geworben. Die von den Nazis präferierte Tannenberg-Grotesk ersetzt die serifenlose Schmuckschrift. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass die Zentrale der Tourismuswerbung in Berlin im Columbushaus am Potsdamer Platz untergebracht war, wie man am Plakat lesen kann, einer Ikone der architektonischen Moderne der Weimarer Republik, die vom jüdischen Baukünstler Erich Mendelsohn errichtet worden war.
Man kann davon ausgehen, dass Haller das Plakat von Troyer bekannt war. Sie haben einander möglicherweise persönlich gekannt. Beide waren Maler und nur im „Nebenerwerb“ Grafikdesigner und Werber für den Fremdenverkehr. Beide hatten familiäre Wurzeln in Südtirol, entstammten derselben Generation und lebten in Innsbruck. So viele Gemeinsamkeiten, doch welch ein Unterschied in den Lebensabschnitten, die folgen sollten!
Im Sommer 1938 entwickeln sich die Biografien in entgegengesetzte Richtungen. Haller beantragte als Mitarbeiter des Landesfremdenverkehrsverbandes seine Aufnahme in die NSDAP. Troyer emigrierte nach Schaan in Liechtenstein. Er hatte noch 1937 Helene Kafka (1900–1961) geheiratet, die einer angesehenen jüdischen Familie aus Innsbruck entstammte. In erster Ehe war sie mit Ernst Schwarz (1894–1975) verheiratet gewesen, einem Miteigentümer des bekannten Kaufhauses Bauer & Schwarz. Dass der Zeitpunkt der Emigration richtig gewählt war, zeigte sich beim November-Pogrom in Innsbruck, bei dem Bekannte von Helene ermordet bzw. schwer verletzt wurden. Aber selbst im Fürstentum wurden die Troyers durch eine lokale Nazigruppe verhöhnt: „Jagd hinaus sie aus dem Land, tragt nicht länger mehr die Schand, nicht mehr feil sei unsre Ehre. Diese Juden, Deserteure, diese Troyer, Tausk und Strauß, werft sie endlich doch hinaus.“[10] Nach Ende des Krieges übersiedelte Johannes Troyer mit seiner Frau 1949 in die USA und arbeitete als erfolgreicher Buchgestalter. Erst 1962 kehrte er als Witwer nach Innsbruck zurück. Oswald Haller hingegen wurde 1940 Parteimitglied, arbeitete nach 1945 unbehelligt weiter und wurde Mitglied des Kulturbeirates der Tiroler Landesregierung.
Oswald Haller, der immer wieder Blumenstücke malte, entwarf das Plakat 1940 in altmeisterlicher Technik und wohl auch mit Referenz auf das ältere Plakat. Gleichzeitig stellte er sich mit dem „Blick aus dem Fenster“ in eine kunstgeschichtliche Tradition, die seit der Romantik auf dieses Motiv zurückgriff. Was wollte er mit dem konträren Blickregime aus dem Fenster auf das Land im Gebirge bezwecken? Symbolisiert es gar – bedauernd oder triumphierend – die Leerstelle, die die Troyers, von denen er wusste, dass sie in die Emigration getrieben worden waren, hinterlassen hatten? Wir wissen es nicht.[11]
Im Juli 1940 erschien in der „Gebrauchsgraphik“ ein Artikel über die „Ostmark Reiseverkehrswerbung“. Darin fanden sich Abbildungen von zahlreichen Tourismusplakaten und -broschüren, die die „Schönheiten der ostmärkischen Gaue“ bewarben. Oswald Haller, Hanns Wagula und Heinrich Berann waren dabei prominent vertreten.[12]
Der langjährige Präsident des Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker, Alfred Proksch (1908–2011), konnte seine unrühmliche Vergangenheit lange Zeit geheim halten. Nachdem neue Quellen aufgetaucht sind, wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft bei Design Austria 2014 aberkannt.[13] Alfred Proksch war seit jungen Jahren Mitglied der pennalen schlagenden Burschenschaft Franko-Cherusker und trat bereits 1927 dem Steirischen Heimatschutz bei, der sich nach dem Pfrimer-Putsch 1931 ideologisch immer mehr dem Nationalsozialismus annäherte. Anfang der 1930er Jahre ging er nach Berlin, arbeitete als Grafiker, wurde jedoch noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wegen Beteiligung an NSDAP-Gewaltakten drei Mal verhaftet und schließlich nach Österreich abgeschoben. Zurück in Wien trat er 1933 der NSDAP und der SS bei und gründete eine Betriebszelle der NSDAP im Schuhpalast Hermes auf der Mariahilfer Straße, wo er Werbeleiter war. Nach dem „Anschluss“ war er dann gemeinsam mit seinem Bruder an der „Arisierung“ des Schuhpalastes Hermes beteiligt. Während des Zweiten Weltkriegs war er 1940 im Ghetto Litzmannstadt (Łódź) im Einsatz, 1941 im SD-Umsiedlungs-Stab in der Untersteiermark in Marburg (Maribor), und 1941/42 war er Abteilungsleiter, ab 1944 im Rang eines SS-Untersturmführers, im „Bandeneinsatz“ gegen Partisanen.[14] Ab 1949 nahm Proksch wieder am regen Vereinsleben des Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker teil, 1957 wurde er Vizepräsident und 1961 für rund ein viertel Jahrhundert Präsident.
[1] Christian Maryška, Julius Klinger und der Weg in die Vernichtung.
[2] Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Fußnote 6.
[3] Protokoll der Vorstandssitzung des BÖG vom 3. April 1948, Archiv Design Austria.
[4] Günther Holler-Schuster, Otto Hochreiter: Die Kunst der Anpassung. Steirische KünstlerInnen im Nationalsozialismus zwischen Tradition und Propaganda. Graz 2010, S. 96.
[5] Ebd. S. 118.
[6] Vgl. Christian Maryška: Die Großglockner Hochalpenstraße wird propagiert. Werbung und Grafikdesign in alpinen Höhen. In: Hörl, Johannes (Hrsg.): Die Großglockner-Hochalpenstraße. Erbe und Auftrag. Wien 2015, S. 271–274.
[7] Abgebildet in den Innsbrucker Nachrichten vom 16. 4. 1938.
[8] Abgebildet in den Innsbrucker Nachrichten vom 9. 3. 1940.
[9] Innsbrucker Nachrichten vom 2. 3. 1940, S. 7.
[10] Umbruch. Kampfblatt der Volksdeutschen Bewegung in Liechtenstein, 30. 6. 1943. Zit. n. Carl Kraus: Tirol – Liechtenstein – New York. Der Künstler und Emigrant Johannes Troyer. In: Tirol, Heft Sommer 1995, S. 102.
[11] Eberhard Hölscher: Die Ostmark-Reichsverkehrswerbung. In: Gebrauchsgraphik, Heft 7, 1940, S. 10.
[12] Zur Situation des Grafikdesigns in Tirol siehe auch: Maryška, Christian: Als das Ypsilon wieder zum I wurde. Der „Anschluss“ des Tiroler Grafikdesigns in der Tourismuswerbung, in: Meighörner, Wolfgang (Hrsg.): Zwischen Ideologie, Anpassung und Verfolgung. Kunst und Nationalsozialismus in Tirol, Innsbruck 2018, S. 180–193.
[13] designaustria – Ehrenmitglieder.
[14] Für die Zurverfügungstellung der Archivquellen sei recht herzlich Christiane Rothländer gedankt.