Ein Genie wurde dem Vergessen entrissen. Fritz Kahn war Arzt, Schriftsteller und einer der erfolgreichsten Populärwissenschaftler seiner Zeit. 1888 in Halle in eine jüdische Familie geboren, studierte er in Berlin Medizin, leistete seinen Militärdienst als Sanitätsarzt, war dann in Palästina als Gynäkologe tätig, bevor er in den 1920er Jahren seine Karriere als Sachbuchautor begann. Kahn beschritt neue Wege in der Möglichkeit, Daten zu visualisieren, schreibt Steven Heller, ehemaliger Art-Director der New York Times und Autor mehrerer Bücher über visuelle Kommunikation, im Vorwort des Buchs „Fritz Kahn. Infographics Pioneer“. So wie Kahn Informationen aufarbeitete und interpretierte, erinnert er an Dalí und Duchamp, meint Heller, und, dass Kahn leidenschaftlich an einer Grafiksprache arbeitete, die den Fachjargon ersetzen sollte: „Kahn war kein Künstler, doch das machte er durch bestechende Logik mehr als wett. Das, was er ausdrücken wollte und wovon er sprechen wollte, musste entsprechend visualisiert werden und so ließ er professionelle Mitarbeiter Fotocollagen, Gemälde, Zeichnungen, Comics im surrealistischen wie dadaistischen Stil herstellen.“ Jede grafische Technik, die ihm als Hilfsmittel dienen konnte, um die unsichtbare physische Welt zu erläutern, war ihm recht. Die Bauhaus-Künstler Herbert Bayer und Walter Gropius gehörten zu Kahns Anhängern.
Eine an das Vorwort anschließende Einführung gibt weitere Einblicke in Kahns Bilderwelten. Das ist notwendig, denn auch für uns, die wir ja gewöhnt sind, uns durch Bilder belehren und anregen zu lassen, ist es neu und spannend zu beobachten, wie das alles vor knapp hundert Jahren begonnen hat. Um Kahns Bilder geht es in der Einführung, um plastische und technische, fesselnde und heilende, eigene und angeeignete und schließlich wilde und gezähmte. Der Dichter Alfred Döblin, der ja auch Arzt war, schrieb in der Rezension eines Kahn-Buches von „origineller Durchführung und Darstellung biologischen Wissens.“ Kahn entwickelte einen Stil, „der auf architektonischen und technischen Bildmetaphern basiert. Funktionsbereiche des menschlichen Körpers zeigt er als moderne Arbeitsräume, Organsysteme als Maschinen mit dazugehörigen Kontrolltafeln, Schaltkreisen oder Leitungssystemen.“ Erster Höhepunkt dieser Darstellungsweise war das Plakat „Der Mensch als Industriepalast“ aus dem Jahr 1926. Fritz Schüler, der Schöpfer dieses auf Kahns Vorgaben beruhenden Gemäldes, war hauptberuflich im modernen Siedlungsbau und als Ausstellungsplaner tätig. Wenn man das Bild heutzutage betrachtet, kann es sein, dass man an die Bildsprache des Fritz-Lang-Films „Metropolis“ erinnert wird, der ja zur gleichen Zeit entstanden ist. Kahn weiß, was er will, er rechnet beim Anblick der Bilder mit einer gewissen Irritation. Und die soll dann bewirken, dass man hineingezogen wird, mehr wissen will. Die Bilder sollen für den Betrachter „visuelle Kleber für das Wissen“ sein.
Die Bücher Kahns wurden von den Nazis verbrannt, er musste aus Deutschland fliehen, über Bordeaux gelang ihm – dank Albert Einsteins Fürsprache – die Emigration in die USA. In den 1960er Jahren brachte er dann noch eine dritte Fassung seines Menschenbuches heraus, das er gerne noch fantasievoller illustriert hätte, seine Grafikerin aus jener Zeit erinnert sich, dass er gebremst werden musste, „sonst wäre es zu wild geworden.“
Fritz Kahn starb im Alter von 80 Jahren in der Schweiz. Sein Werk drohte in Vergessenheit zu geraten, bis die Geschwister Uta und Thilo von Debschitz 2009 ein Buch über den Pionier der Infografik herausbrachten. Dieses Buch hat eine ganz eigene Geschichte, bei der der Zufall eine große Rolle spielte: Zufällig lernte Uta von Debschitz vor 30 Jahren Kahns Sohn Emanuel in New York kennen, zufällig fand Thilo in einer rumänischen Designzeitschrift diese faszinierende Darstellung des menschlichen Körpers aus den 1920er Jahren. Die Geschwister begaben sich auf Spurensuche, lernten Gestalter und Wissenschaftler kennen, konzipierten 2009 einen vorerst zweisprachigen Bildband und dann, 2017, eine komplette Neuauflage mit über 350 Bildern auf 526 Seiten. Ausführliche Bildunterschriften (in den Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch) erleichtern den Zugang zu den Bildern, zu Kahns Denkungsweise und den Vorstellungen seiner Zeit. Zeitungsartikel aus der Zeit seines Schaffens vermitteln seine bildhafte Sprache und stilistische Vielfalt.
Uta von Debschitz & Thilo von Debschitz: Fritz Kahn. Infographics Pioneer, TASCHEN Verlag Bibliotheca Universalis, Köln 2017.