„Auf den Lärm der Propaganda, auf das vielstimmige Geschrei farbiger Plakate, von denen eines das andere übertrumpfen will, auf turbulente Versammlungen, Straßenaufzüge mit Fahnen, Tafeln und Musik, auf das atemlose Tohuwabohu des politischen Großbetriebes, der sich in den letzten Tagen schonungslos enthüllte, auf die Gasangriffe, mit denen eine Partei der anderen das Licht ausblasen wollte, folgte eine ruhiger Wahltag,“ so bilanzierte das Wiener „Fremden-Blatt“ am 17. Februar 1919 über das vorangegangene Wahlgeschehen.[1] Einen Tag davor hatten in Österreich die ersten „Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung“ stattgefunden, die erste Wahlentscheidung des Landes, die nach dem Prinzip der Allgemeinheit, Gleichheit und Direktheit unter Einbeziehung der Frauen durchgeführt wurde. Und – was ebenfalls ein großer Fortschritt war – Frauen konnten erstmals auch als Abgeordnete gewählt werden.
Es war eine relativ kurze, aber sehr intensive Wahlauseinandersetzung gewesen, in der sich die Polarisierung von rechts und links, von Christlichsozialen und Sozialdemokraten, von der die kommende Entwicklung der Ersten Republik maßgeblich bestimmt wurde, bereits deutlich abzeichnete. Die Linken waren dabei stark in der Offensive, der 16. Februar sollte ihrer Forderung nach ein „Gerichtstag“ über die Vergangenheit sein. Ihre Werbung erinnerte die Wählerinnen und Wähler an die Gräuel des Ersten Weltkriegs und gab die Schuld an all dem Unglück dem Habsburg-Regime und jenen, die diese Herrschaft bis zum Schluss unterstützt hatten. Für die Sozialdemokraten war es klar, und sie legten in ihrer Propaganda auch den Schwerpunkt darauf, dass die „Kriegshetzer und Kriegsgewinnler“ ihr Lager in der Christlichsozialen Partei gefunden hatten. Ihnen wurde ihre Kaisertreue und ihre Begeisterung zu Anfang des Krieges mit immer wieder neuen Worten und Bildern vorgehalten.
Die Christlichsozialen konterten mit antisemitischen Ausfällen gegen die sozialdemokratischen Wahlwerber, betonten die christlichen Werte und deren angebliche Gefährdung durch die Linken und malten das Bild des „roten Terrors“ an die Wand, um vor der linken Konkurrenz zu warnen.
Die Deutschnationalen als das dritte Lager in der politischen Landschaft Österreichs waren zu Beginn der Republik noch in viele kleine Parteien aufgesplittert, nicht weniger als dreizehn verschiedene Gruppierungen kandidierten aus diesem Bereich bei den Wahlen. Gemeinsam war ihnen allen eine deutschnationalistische Ausrichtung vereint mit einem fatalen Antisemitismus, der sich vor allem gegen die ProtagonistInnen der Sozialdemokratie richtete.
Aufsehenerregend neu war in diesem Wahlgeschehen der massenweise Einsatz von Plakaten. Insbesondere die Verwendung von Bildern war dabei in dieser Fülle eine Novität. Unter dem Titel „Die Bildergalerie der Straße“ hieß es dazu in der „Neuen Freien Presse“: „Das illustrierte Wahlplakat gibt der Wahlwoche seine Signatur. Der Text ist nur die Zugabe zur Zeichnung. Das Bild dominiert, strebt die alleinige und unabhängige Wirkung an. Es rechnet mit der psychologischen Tatsache, daß das Kino dem Theater den Vorrang abgewonnen hat. Darum der Wettkampf der Plakatzeichner, wer den kürzesten Kommentar beansprucht und den wortkargsten.“[2] Und wenige Tage danach hieß es im „Interessanten Blatt“: „Eine schöne Zeit für die Plakatkünstler. In den politischen Gedanken der Bilder ist manche Wahrheit zu finden. Es wird für Sammler hohe Zeit sein, eine Sammlung der Wahlplakate anzulegen, da sie nach der Wahl verschwinden werden.“[3]
Ein besonderes Phänomen in dieser propagandistischen Auseinandersetzung waren die Plakate der „Bürgerlich-demokratischen Partei“. Diese liberale Gruppierung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, eine entscheidende dritte Kraft in Österreich zu werden. Dafür führte sie den materialmäßig weitaus aufwendigsten Wahlkampf aller Parteien mit den meisten Bildplakaten, für die sie versierte Werbegrafiker engagierte. In immer wieder neuen Bildern wurde die Gefährlichkeit der beiden großen Parteien veranschaulicht. Trotz des enormen Aufwandes war das Wahlergebnis für die „Bürgerlichen-Demokraten“ mehr als enttäuschend.
Stärkste Kraft wurde bei jenem Wahlgang die „Sozialdemokratische Partei“ mit 72 Abgeordneten, die Christlichsozialen erreichten 69 Sitze, die deutschnationalen Gruppen 26. Jeweils ein Mandat erhielten die „Bürgerlich-demokratischen Partei“, die „Jüdischnationale Partei“ und eine Vereinigung der tschechoslowakischen Parteien. Es kam zu einer großen Koalition von Sozialdemokraten und Christlichsozialen. Es war dies eine Regierung, die jedoch nur ein Jahr bestand, weil bereits 1920 die erste eigentliche Nationalratswahl durchgeführt wurde.
[1] Fremden-Blatt, 17.2.1919, S. 2.
[2] Neue Freie Presse, 15.2.1919, S. 13.
[3] Das interessante Blatt, 20.2.1919, S. 9.