Das Jahr 1919 war in Österreich ein „Superwahljahr“, in dem es galt, die einzelnen parlamentarischen Gremien der jungen Republik auf moderne demokratische Standards zu bringen. Nachdem am 16. Februar die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung durchgeführt worden waren, waren in der Folge auch die Länder und Gemeinden an der Reihe. So wurde am 4. Mai 1919 in Niederösterreich und in Wien, das damals noch kein eigenes Bundesland war, erstmals Wahlen nach den Prinzipien der Allgemeinheit, Gleichheit und Direktheit unter Einbeziehung der Frauen durchgeführt.
Die ersten Landtags-Wahlkämpfe gehörten in Österreich im Unterschied zu den bundesweiten Wahlen nicht zu den „first-order-elections“[1]. Auch der Wiener Wahlkampf wurde nicht sehr intensiv geführt. Es war – anders als man es sich aufgrund der darauf folgenden Geschichte Wiens erwarten würde – seltsamerweise kein großer Showdown, obwohl es damals um eine wesentliche politische Weichenstellung ging: nämlich um die Frage, ob die Stadt nach sozialdemokratischen Prinzipien grundlegend umgestaltet oder nach den christlichsozialen Vorstellungen der Lueger-Zeit weiterregiert werden sollte.
Relativ knapp vor der Wahl konstatierte die sozialdemokratische „Arbeiter-Zeitung“: „Nach dem gewaltigen Aufschwung der Wahlen zur Nationalversammlung verläuft die Wahlbewegung zu den Wahlen in den niederösterreichischen Landtag, in den Wiener Gemeinderat und in die Wiener Bezirksvertretungen in fühlbarem Abstieg; auch in der Politik tritt nach der Flut eine Ebbe ein. Auch ist der Anprall der täglichen Sorgen und Erregungen zu groß, als daß sich die Aufmerksamkeit so eindringlich auf Wahlen konzentrieren könnte, die in der Ueberlieferung nur einen lokalen Charakter besitzen.“[2] Diese Aussage zeigt, dass man sich in der Sozialdemokratie selbst offenbar nicht bewusst war, dass aufgrund dieser Wahl die Basis für das umfassende kommunale Reformprojekt gelegt werden konnte, das unter dem Namen „Rotes Wien“ auch zu einem international rezipierten Begriff wurde und die Politik der österreichischen Bundeshauptstadt in weiten Teilen über 100 Jahre prägte.
Die politischen Hauptkonkurrenten, die Christlichsozialen, die bisher die Stadt regiert hatten, trauten den Sozialdemokraten naturgemäß wenig zu, pochten auf die Verdienste der bisherigen Administration und verbanden dabei, wie damals sehr oft, ihre politischen Angriffe mit antisemitischer Polemik: „Laßt euch Euren gesunden Wiener Sinn durch verhetzende Schlagworte und jüdische Verdrehungen nicht trüben! Angesichts der großartigen Leistungen der christlichsozialen Gemeindeverwaltung liegt es in Eurem und Eurer Kinder Interesse, daß diese volksfreundliche Tätigkeit im Wiener Rathaus keine verhängnisvolle Unterbrechung erleidet. Wenn Ihr nicht wollt, daß unsere alte, ohnehin schwer geprüfte Vaterstadt durch Leute, die sich zwar auf das Versprechen und Agitieren, nicht aber auf positive Arbeit verstehen, zu einer Kleinstadt herabgewirtschaftet wird, sondern daß Wien ein wirkliches Handels- und Verkehrszentrum im Interesse aller ehrlich arbeitenden Stände werde, dann müßt Ihr geschlossen christlichsozial wählen!“[3]
Was die Plakatwerbung für diesen Wahlkampf betrifft, so wurden von den großen Parteien die für die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung produzierten Bildplakate weiterverwendet. Als Ergänzung für die Gemeinderatswahl brachten die wahlwerbenden Parteien im Wesentlichen lediglich Textplakate heraus.[4] Den Christlichsozialen ging es dabei vor allem darum, den Wahltag zu annoncieren und ihre Klientel angesichts der grassierenden Wahlmüdigkeit zur Stimmabgabe zu bewegen. Die Sozialdemokraten gingen auf manchen ihrer Textplakate mehr ins Detail und gaben Teile ihrer Pläne für die kommenden Jahre bekannt: Moderne Schulen mit kostenlosen Lehr- und Lernmitteln, mehr Kinderspielplätze, Jugendhorte, Säuglingspflege, bessere Straßen, eine moderne Müllabfuhr sowie der Ausbau von Lungenheilstätten und Spitälern wurden da den Wählerinnen und Wählern versprochen.
Den größten propagandistischen Aufwand betrieben auch diesmal – wie schon bei den Wahlen zur Nationalversammlung – die Liberalen, die sich nun unter dem Namen „Vereinigte demokratische Parteien Wien“ zusammengeschlossen hatten. Die Deutschnationalen traten auch bei den Gemeinderatswahlen mit verschiedenen Listen auf, denen rabiater Antisemitismus sowie der Wunsch nach einem Anschluss an Deutschland gemeinsam war.
Die Wahl am 4. Mai verlief ruhig, die Wahlbeteiligung war mit 61,3% den Befürchtungen entsprechend niedrig. Der eindeutige Wahlsieger waren die Sozialdemokraten mit 54,2% der Stimmen, es folgten die Christlichsozialen mit 27,1%, die „Partei der sozialistischen und demokratischen Tschechoslowaken“ mit 8,4%, die Großdeutschen mit 5,4%, die Demokraten mit 2,6% und die Jüdischnationalen mit 1,9%, der Rest ging an Kleingruppierungen.[5]
Am 22. Mai 1919 wurde Jakob Reumann mit den Stimmen seiner Partei sowie jenen der Tschechoslowaken und der Jüdischnationalen im Wiener Gemeinderat zum ersten sozialdemokratischen Bürgermeister Wiens gewählt. In seiner Antrittsrede sagte er: „Die Revolution hat die Vorrechte einzelner Klassen und Stände zertrümmert und die Gleichheit des Wahlrechtes hat dem neuen Gemeinderat seine gegenwärtige Gestaltung gegeben. Ich begrüße besonders die Frauen, die als Gleiche unter Gleichen durch den Willen der Bevölkerung hier im Saale, der für sie viel zu lange verschlossen blieb, Sitz und Stimme haben.“[6]
[1] Dolezal, Martin: Landtagswahlkämpfe in der Ersten Republik, in: Dachs, Herbert – Michael Dippelreiter – Franz Schausberger (Hrsg.): Radikale Phrase, Wahlbündnisse und Kontinuitäten. Landtagswahlkämpfe in Österreichs Bundesländern 1919 bis 1932, Wien 2017, S. 575.
[2] Arbeiter-Zeitung, 26.4.1919, S. 1.
[3] Flugblatt „Lagerhäuser und Wirtschaftsleben“, Wienbibliothek, Konvolut Sign.: C 67.045.
[4] Vgl. dazu: Denscher, Bernhard: Wahljahr 1919, Wien 1989, S. 36ff.
[5] Seliger, Maren – Karl Ucakar: Wahlrecht und Wählerverhalten in Wien 1848–1932, Privilegien, Partizipationsdruck und Sozialstruktur, Wien 1984 (=Kommentare zum Historischen Atlas von Wien, 3. Bd), S. 228.
[6] Arbeiter-Zeitung, 23.5.1919, S. 5.