Wie sinnvoll ist es eigentlich, ein Buch über Designentwicklungen in West-Berlin herauszubringen? Da kann es nur eine Antwort geben: Sehr sinnvoll. Denn West-Berlin war zwischen 1961 und 1989 ein ganz besonderer Ort. Es war die Frontstadt im Kalten Krieg und verdankte seiner Insellage auf der einen Seite viele Probleme („In 15 Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm!“[1]), auf der anderen Seite aber auch viele Privilegien. Wer in Berlin-West gemeldet war, musste z.B. nicht zur Bundeswehr, es gab umfangreiche finanzielle Förderungen für Firmen, die sich dort niederließen, aber auch Förderungen für Oper, Theater, Film, Museen, Festivals, Konzerte, Medien usw., usw. So entstand ein besonderes Inselleben. Schließlich sollte West-Berlin – mitten in der DDR gelegen – auch einiges ausstrahlen an „westlichen Werten“ und kapitalistischen Möglichkeiten.
In der DDR wurden die Informationen gierig aufgenommen. Als Ost-Berliner kann ich mich noch gut erinnern, woran wir Spaß hatten: Es gab den amerikanischen Soldatensender (AFN) mit irrer Musik, noch toller waren die Briten mit ihrem BFBS. Man konnte bundesrepublikanische Fernseh- und Rundfunksender (SFB und RIAS) empfangen, aber auch bei den „Russen“ im Kasernengeschäft Tee, Wodka und tolle Süßigkeiten kaufen. Trotz dieser Weltläufigkeit gab es diese Mauer. Und aus meiner Sicht, von dahinter, konnte man immer wieder spannende Entwicklungen wahrnehmen.
Gezielt fiel mein Blick auf die West-Berliner Gestalterszene ab Mitte der 1980er Jahre, als ich im damaligen Museum für Deutsche Geschichte begann, in der Plakatsammlung zu arbeiten. Hin und wieder lud der bekannte Grafiker Hubert Riedel (1948–2018) in sein Atelier ein, hin und wieder auch Kolleginnen und Kollegen aus West-Berlin. Bücher und Kataloge wurden getauscht, Gespräche über Gestaltungsfragen geführt. Für mich war das alles Neuland und die Namen der Anwesenden oder die, über die gesprochen wurde, sagten mir anfangs selten etwas.
Jetzt kann (nicht nur) ich dies in einem neuen Band der A5-Serie gezielt nachholen.[2] Jens Müller hat das Buch ungewöhnlich strukturiert. Es wechseln sich monografische mit thematischen Beiträgen ab. Am Anfang jedoch kann man einen längeren E-Mail-Wechsel zwischen Jens Müller und Bernard Stein nachverfolgen, in dem die Eckpunkte dieses Buches facettenreich erörtert werden, Gedankenstränge werden verfolgt und verworfen, die Frage der besonderen Stellung West-Berlins immer wieder aufgeworfen.
Es geht los mit „West-Berlin-Logos“. Gezeigt wird die ganze Palette an Firmen und Institutionen, die mit ihren Logos in West-Berlin reüssierten. Es folgen monografische Beiträge zu Jürgen Spohn und Christian Chruxin. Dass der schon erwähnte SFB auch ein glückliches Händchen bei der Auswahl seiner Gestalter hatte, bewies Intendant Walter Steigner. Der Grafiker Dieter Skorupa erneuerte 1962 das visuelle Erscheinungsbild, die Gestaltung der Veranstaltungsplakate übernahmen fortan Sigrid von Baumgarten und Hans Förtsch, zu ihnen gesellte sich noch Reinhart Braun. Sie bestimmten über viele Jahre das SFB-Erscheinungsbild. Es folgt ein Kapitel zum „Berlin-Layout“, das Anton Stankowski 1971 schuf und damit eines der frühesten Corporate Designs für eine Stadt präsentierte. Es folgen monografische Beiträge zu Volker Noth, Ott+Stein (Nicolaus Ott & Bernard Stein) und Jack N. Mohr. Das letzte Kapitel ist dem Corporate Design der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gewidmet, welches Erik Spiekermann (MetaDesign) 1990 entwickelte und das im Wesentlichen bis heute Bestand hat. Biografien der erwähnten und in den Texten auftauchenden Gestalter finden sich dann noch am Ende des Buches.
Neben den Fakten – bekannte wie neue, allgemeine wie spezielle – sind es die persönlichen Kommentare der einzelnen Protagonisten, die der besonderen Stimmung der „Mauerzeit“ in West-Berlin nachspüren, die an große und kleine Episoden im West-Berliner (Gestalter)Leben erinnern.
Und wenn man dem Buch folgt, so gab es einen Kanon der Moderne, der Strenge und der Klarheit, vor allem im Umgang mit Typografie. Einen Stilbegriff wird man hier nicht prägen können und wollen, aber der von Hans Förtsch programmatisch gemeinte Begriff von der „Informationsgrafik“ findet hier seine breite visuelle Entsprechung.
Da das Buch im Eigenverlag erschienen ist, kann man es zum Preis von 28 EUR am besten bestellen über: www.a5design.de.
In der Reihe bisher erschienen:
A5/01: Hans Hillmann – Das visuelle Werk, 2009 | A5/02: Philips-Twen – Der tonangebende Realismus, 2009 | A5/03: Celestino Piatti + dtv – Die Einheit des Programms, 2009 | A5/04: Kieler Woche – Geschichte eines Designwettbewerbs, 2010 | A5/05: Lufthansa + Graphic Design – Visuelle Geschichte einer Fluggesellschaft, 2012 | A5/06: HfG Ulm – Kurze Geschichte der Hochschule für Gestaltung, 2014 | A5/07: Rolf Müller – Geschichten, Systeme, Zeichen, 2014 | A5/08: Best German Posters. Eine Geschichte der deutschen Plakatwettbewerbe, Düsseldorf 2016 (Hrsg. jeweils Jens Müller, Optik Books, dt./engl.).
[1] Zitat aus dem Titel „Russen“ von Udo Lindenberg aus dem 1984er Album „Radio Eriwahn präsentiert Udo Lindenberg + Panikorchester“.
[2] Müller, Jens (Hrsg.): West-Berlin Grafik-Design. Gestaltung hinter dem Eisernen Vorhang, Düsseldorf 2019 (Optik-Books, Fachhochschule Dortmund / FB Design; Serie A5/09).