Die „Vergraulung der Erwachsenen“ wird gewöhnlich durch Behörden herbeigeführt. Das Wort „Vergraulung“ lernte ich von einer solchen Behörde. Ich kann nichts dafür. Und das kam so:
Über die Sittlichkeit des halbwüchsigen Berlins wacht neben der Reichszensur die Ortspolizei. Die Reichszensur ist der Nabel der Sittlichkeit. Mit ihr durch eine Nabelschnur verbunden ist die ortspolizeiliche Zensur. Weder die Reichs- noch die ortspolizeiliche Zensur können es verhüten, daß Jugendliche unter sechzehn Jahren von lebenden Frauenkörpern, die wahrnehmbar und gewiß auch der Ortspolizei nicht ganz fremd, durch die Straßen wandeln, verführt werden. Dies zu verhüten ist auch weder die Aufgabe der Reichs- noch die der ortspolizeilichen Zensur. Im Gegenteil haben diese beiden Behörden nichts gegen jene Obszönität, die aus Fleisch und Blut besteht. Die Aufgabe der Zensur ist es vielmehr, die Jugendlichen vor Schaden durch Frauenspersonen, die nur aus Farbe und Papier bestehen, zu behüten.
Daher kommt es, daß Plakate der Reichs- bzw. ortspolizeilichen Zensur überwiesen werden und hier vor das Auge des Gesetzes kommen. Es sind eigentlich mehrere Augen des einen Gesetzes. In der Reichszensur die Augen älterer, juristisch gebildeter Staatsbeamten, deren Prüderie man eigentlich versteht, weil Sinn und Zucht mit den Jahren kommt und Avancements erleichtert. Das Auge des Gesetzes in der ortspolizeilichen Zensur aber wird von einem Herren namens Langner benützt, der, vor Jahren zwar, aber anscheinend mit Nachdruck, Küster gewesen sein soll.
Die Filmgesellschaften machen Reklame für ihre neuen Filme durch Plakate. Und da es sich nicht vermeiden läßt, daß Frauen in besagten Filmen Hauptrollen spielen und diese Hauptrollen nicht immer gerade Nonnenkostüme erfordern, gelangen die Frauen auch auf das Reklameplakat. Und eben über das Maß der Unsittlichkeit dieser Frauenspersonen und über den eventuell für die unreifere Jugend erwachsenden Schaden hat die Reichs- bzw. ortspolizeiliche Zensur zu urteilen. Auf einem der letzten Filmplakate war eine Frau in einem etwas erotischen Kostüm dargestellt, das den Unterleib frei und einen Streifen Bauch sehen ließ. Der Nabel der Sittlichkeit empörte sich gegen jenen auf dem Plakat abgebildeten und verfügte, daß mindestens ein sanfter Schleier über jene nackte Partie geworfen werden müsse. Der Schleier wurde hergestellt. Ferner: Das Filmplakat für den Film „Das Skelett des Herrn Markutius“ wies in irgendeiner Ecke einen Totenschädel auf. Herr Langner behauptete, es sei seine Pflicht, die Minderjährigen nicht nur vor täuschend nachgebildeten Frauenbeinen zu bewahren, sondern auch vor Totenköpfen. Das sei, sagte er, nicht „for die Kinder“. Und es gelang ihm bei dieser Gelegenheit, jenes prächtige Wort zu bilden, dessen ich mich sofort im Anfang dieser Auseinandersetzung bemächtigt habe: Man dürfe, sagte Herr Langner weiter, die Kinder „nicht vergraulen“.
Auch politische Bedenken sind unter Umständen den hiesigen Zensurstellen nicht fremd. Das Sumurun-Filmplakat von Matejko zeigt eine lächelnde Frau, die sich von einem fremdrassigen Mann – halb freiwillig – rauben läßt. Die Reichszensur dekretierte nun: Man empöre sich in Deutschland, wenn weiße Frauen in den besetzten Gebieten sich mit den Schwarzen einließen. Sei dieses vom gesellschaftlichen Standpunkte unumgänglich, so könne man ein Bild, auf dem eine weiße Frau sich so ganz ohne Widerspruch von einem Fremdrassigen rauben lasse, keineswegs dulden. Also mußte der Maler das Bild retouchieren, und die nun bräunlich gewordene Frau gibt zu keinen politischen Bedenken mehr Anlaß.
Es wird sicherlich sehr viel Obszönes, Schamloses, wirklich Sittenverderbendes gemalt, gedruckt, erzeugt und vertrieben. Eine Zensur ist gewiß notwendig. Aber eine Zensur, die selbst zugibt, sich von künstlerischen Gesichtspunkten nicht leiten zu lassen, und die Gründe solcher Art, wie sie hier verzeichnet sind, mühselig hervorsucht, macht sich selbst der Überflüssigkeit verdächtig.
Neue Berliner Zeitung – 12-Uhr-Blatt, 26.8.1920, S. 2.
Auch erschienen in: Peschina, Helmut – Rainer-Joachim Siegel (Hrsg.): Joseph Roth. Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos, Göttingen 2014.