Der Grafiker Mihály Biró hat als Plakatgestalter und Illustrator das visuelle Bewusstsein und vor allem die politische Ikonografie seiner Zeit in nachhaltiger Weise beeinflusst. Seine Arbeitsbiografie, die von seinem Geburtsland Ungarn über Österreich bis nach Deutschland reicht, ist relativ genau aufgearbeitet.[1] Ein Aspekt blieb bisher allerdings unberücksichtigt, nämlich Birós Tätigkeit für die Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“ im Jahr 1924. Das Engagement des so überzeugt sozialistisch geprägten Künstlers für das bürgerlich-liberale Blatt ist schon aufgrund dieser politischen Konstellation bemerkenswert.
Nach dem Ende der ungarischen Räterepublik und der Machtergreifung des autoritär regierenden Miklós Horthy waren viele ungarische Intellektuelle nach Wien geflohen und machten die Stadt zu einem Zentrum der ungarischen Avantgarde. Mihály Biró, der sich im deutschsprachigen Raum meist Michael nannte, war ein Teil davon und offensichtlich gut mit der Emigrantenszene vernetzt, und dies auch über deren linken Kern hinaus. Er arbeitete zwar fallweise für ungarischsprachige Exil-Zeitschriften[2], seinen Haupterwerb jedoch fand er, neben seinen Plakaten und Illustrationen für die österreichischen Sozialdemokraten, im Umkreis des umstrittenen Zeitungsherausgebers Imre Békessy. So lieferte Biró Zeichnungen für die Tageszeitung „Die Stunde“ und wurde 1924 auch „künstlerischer Leiter“ der „Bühne“ – beide Blätter waren Gründungen von Békessy. Teilweise parallel zu seiner Tätigkeit bei der „Stunde“ schuf Mihály Biró 18 Grafiken für die „Illustrierte Wochenbeilage“ der „Neuen Freien Presse“.
Dieses Samstagsmagazin war ein interessantes, wenn auch kurzlebiges, Nebenprodukt der renommierten Tageszeitung. Unter der redaktionellen Leitung von Géza Herczeg und Ludwig Hirschfeld erschien die Beilage von 5. April 1924 bis 27. September 1924. Den Sinn dieses Projektes erläuterte die Redaktion der „Neuen Freien Presse“ in folgender Weise: „Wir glauben, damit dem zunehmenden Bedürfnis nach bildlicher Darstellung zu entsprechen, und zwar in einer modernen, lebendigen Weise und in gediegenen Reproduktionen, die den Lesern den Schauplatz der großen Ereignisse, die leitenden Persönlichkeiten der Politik, der Kunst und der Literatur vor Augen führen. Unsere ‚Illustrierte Wochenbeilage‘ ist nach einem neuen Druckverfahren hergestellt und hat einen Umfang von 32 Seiten, von denen der größte Teil der Illustration gewidmet ist.“[3]
Den beiden Chefredakteuren war es dabei gelungen, neben Mihály Biró weitere Illustratoren zu finden, die zu den bekanntesten Vertretern ihres Faches gehörten, wie etwa Wolfgang Born, Otto Dely, Ernst Deutsch-Dryden, Nikolaus Vadász oder Max Oppenheimer. Auch eine prominente Zeichnerin war dabei, die, im Blatt so vorgestellte, „Gattin des Dichters“ Martha Musil, die Porträts von Theaterleuten beisteuerte. Auch die beiden leitenden Redakteure waren namhafte Vertreter ihres Faches: Ludwig Hirschfeld ein renommierter Publizist und Géza Herczeg, der eine besonders schillernde Persönlichkeit war, ein erfolgreicher Journalist. Anfang der 1920er-Jahre war er noch in den Diensten des Horthy-Regimes gestanden, dann ging er nach Wien und fungierte zunächst als Redakteur der „Neuen Freien Presse“, dann als Chefredakteur der „Wiener Allgemeinen Zeitung“. Daneben war er Theaterautor und schrieb Libretti für Revuen und Operetten. Er hatte enge Kontakte zum faschistischen Italien und übersetzte, angeblich auf Wunsch von Mussolini selbst, dessen Theaterstück über die letzten Tage Napoleons (gemeinsam verfasst mit Giovacchino Forzano) ins Deutsche und Ungarische. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland emigrierte Herczeg in die USA, wo er als Drehbuchautor erfolgreich war.
Mihály Birós erste Arbeit für die „Illustrierte Wochenbeilage“ der „Neuen Freien Presse“ war eine doppelseitige „Originalzeichnung“ von einem spektakulären Boxmeeting im Fußball-Stadion auf der „Hohen Warte“ in Wien. Die Sportveranstaltung war ein großes Medienereignis, dessen Höhepunkt der Kampf des früheren französischen Weltmeisters Georges Carpentier gegen den Engländer Arthur Townley war: Ein Treffen, das der Franzose bereits nach sechs Minuten durch einen K.-o.-Sieg für sich entschied. Die Umstände dieses Erfolges waren durchaus umstritten, es war von Regelverstößen die Rede und daher fühlten sich Teile des Publikums um ihr Geld betrogen. Biró hielt genau den Moment dieses Knock-outs fest und stellte dabei die Aufregung und Empörung der Zuschauerinnen und Zuschauer in humoristischer Weise dar.[4]
Biró blieb bei seiner Arbeit für die „Neue Freie Presse“ dann vorerst beim Thema und lieferte für das Magazin ein Szenenbild von der deutschen Uraufführung von George Bernard Shaws Burleske „Der Boxkampf“, die am 24. Mai 1924 im Wiener Volkstheater stattfand.
Dass das Stadion auf der Wiener „Hohen Warte“ mit einem Fassungsraum von 25.000 Menschen auch kulturell genutzt wurde, zeigt Birós Bild einer Aufführung der Verdi-Oper „Aida“. Unter der musikalischen Leitung des italienischen Komponisten Pietro Mascagni und mit nicht weniger als 1000 Mitwirkenden sahen damals Zigtausende an 17 Abenden die spektakuläre Produktion (Abb. siehe oben).
Waren Mihály Birós politische Arbeiten meist sehr ernst und pathetisch, so bewies der Künstler in seinen Zeichnungen für die „Neue Freie Presse“, dass er auch einen ausgeprägten Sinn für humoristische Genreszenen hatte. Dies zeigt seine Impression von den Preisträgern einer Hundeausstellung ebenso wie die Skizze von einem Schulausflug oder sein sommerliches Bild von ballspielenden Kindern.
[1] Denscher, Bernhard – Helge Zoitl (Hrsg.): Biró Mihály 1886 – 1948. Plakátok, Plakate, Budapest – Wien 1986; Horn, Emil: Mihály Biró, Hannover 1996 (=Reihe Internationale Plakatkünstler, 01); Noever, Peter (Hrsg.): Mihály Biró. Pathos in Rot, Wien 2010 (=MAK Studies, 19). Darüber hinaus finden sich auf AUSTRIAN POSTERS unter dem Suchbegriff „Biró“ nicht weniger als 32 Treffer.
[2] Von seiner Quantität her wird dieses Engagement jedoch bisweilen überschätzt. Für „Becsi Magyar Ujsag“ etwa lieferte er bloß eine Zeichnung (21.7.1920, S. 4), für „Az Ember“ waren es neben einem Plakat fünf Illustrationen (20.11.1919, S. 14; 28.11.1919, S. 22; 12.12.1919, S. 12/16; 8.8.1920, S. 19).
[3] Neue Freie Presse, 4.4.1924, S. 9.
[4] Neue Freie Presse, 10.5.1924, S. 9.