Günter Karl Bose ist nicht nur auf eine Tätigkeit festzumachen, denn er war Mitbegründer des Berliner Verlages „Brinkmann & Bose“, dann Professor für Typografie und Leiter des Instituts für Buchkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, er sammelt Fotografien, die er dann in Büchern veröffentlicht, zum Beispiel „Photomaton“ mit 500 Automatenfotos oder „Big Zep“, eine Kollektion von 300 Zeppelinfotos aus der Zeit zwischen 1924 und 1939. Hier und jetzt aber das neueste Buch: „Elementum“, ein Sammelband mit Essays über Typografie, Bücher und Buchstaben.
Der titelgebende Essay scheint gelehrt mit einer Geschichte der Schrift zu beginnen, aber gleich auf der vierten Seite ist man mitten in einer hitzigen Debatte über die Anordnung der Buchstaben im Alphabet. Es könnte ja genauso EL-EM-EN heißen und nicht A-BE-CE! Schon hier merkt man, dass Bose Lehrer und Vortragender war, der wusste, wie und womit man Aufmerksamkeit erregt. Er gräbt und forscht nach so vielem, was wir heutzutage nicht mehr hinterfragen, weil es einfach selbstverständlich zu sein scheint. Seine Überlegungen untermauert er mit Zitaten, über die man lange, sehr lange nachdenken kann. So vermerkt er beim Thema „Spatium“, also Zwischenraum, dass die Typografie „jedes Gemeintsein in eine Folge druckender und nicht druckender Teile übersetzt […] Sie bildet Information deshalb nicht einfach ab, sondern formt und strukturiert sie.“ Dieser Zusammenhang zwischen Buch und Schrift forderte aber immer schon heraus, so wollte Jaques Derrida endlich das lesen, was schon immer zwischen den Zeilen geschrieben stand.
Kulturgeschichte in reinster Form bietet Bose in „Das Gesetz und sein Buchstabe“, da beginnt er mit Moses, kommt über Kafka zum Scherbengericht und in weiterer Folge zu Gutenberg und wieder weiter zum Problem der Auslegung, der Frage nach dem Sinn dessen, was da jetzt Schwarz auf Weiß steht: „Die Schrift führt das Recht in einen Abgrund der Sprache.“ Bose macht sich Gedanken über Lesen und Schreiben, bringt da die Psychophysik – die Lehre von den Beziehungen zwischen seelischen und körperlichen Tatbeständen – ins Spiel, hat – immens belesen wie er ist – auch dazu Zitate bereit, diesmal Rimbaud: „Schwächlinge könnten über den ersten Buchstaben des Alphabets nachzudenken beginnen und sich unvermittelt im Wahnsinn verlieren.“
Im Essay über „Das Neue in der Neuen Typologie“, in dem er sich mit dem „Handbuch für zeitgemäß Schaffende“ des Jan Tschichold aus dem Jahr 1928 befasst, fragt er, was denn Bestand habe, „wenn alles sich verändert, wenn immer wieder nur Neues uns begegnet“. Hier kommen erstmals pessimistische Töne in Richtung Fortbestand des Buches hoch: „Die Zeit des Buches und damit einer Kultur, deren Verschwinden sich heute vor unseren Augen vollzieht, scheint vorüber […] Es ist Abschied zu nehmen von einer Geschichte“. Typisch für Boses Schreiben ist, dass er sich lustvoll auf Nebenthemen stürzt, um dann doch wieder – nach für ihn angemessener Zeit – zurückzukehren zum Ausgangsthema, in diesem Fall zur Typografie. Und da verblüfft er mit der Mitteilung, dass es keine Darstellung des Druckverfahrens von Gutenberg oder anderer früher Drucker gibt. Erst 1683/84 erschien das erste Lehrbuch der Buchdruckerei. Und wieder spinnt er seine Gedanken ins Philosophische weiter, kommt vom Besonderen zum Allgemeinen, von der Erfahrung des „Dort und Damals“, die uns das „Hier und Jetzt“ bewusst macht.
In „Normalschrift“ rollt Bose den Streit zwischen Fraktur- und Antiqua-Schrift auf, in dem – schon 1929 – die Angst vor der „Überfremdung“ hochkam (Ein Nebenthema hier: „Hitler und die Plakatkunst“). Jan Tschichold (1902–1974), Kalligraf, Schriftentwerfer und Typograf, ist Gegenstand zweier weiterer Essays, in denen Bose ein ironisches Bild dieses äußerst interessanten und höchst selbstbewussten Künstlers zeichnet: für seine Umgebung eine Zumutung, in der Fachwelt aber bis heute voll Respekt behandelt. „Typografie als Denkschule“ ist ein Aufsatz über den Schweizer Grafiker und Buchgestalter Jost Hochuli: „Die von Jost Hochuli gestalteten Bücher haben die Schönheit des Einfachen, die schwer zu machen ist.“ So macht Bose Berühmtheiten aus der Typografen-Szene einem breiteren Publikum bekannt, indem er sie als Menschen und nicht nur als geniale Typografen zeigt. Weit zurück, ins 15. Jahrhundert, führt der Beitrag über Gutenberg und dessen Zeitgenossen, den koreanischen Kaiser Sejong den Großen, der 1443 persönlich eine Schrift für das Volk mit 28 Schriftzeichen entwarf. Dann springt er in unsere Zeit zu Ahn Sang Soo, einem koreanischen Gestalter, Künstler und Verleger, der die Schrift des alten Kaisers lebendig erhalten will.
Kernstück und ausführlichster Beitrag in dieser Essaysammlung ist „Das Ende einer Last“, mit dem Untertitel „Die Befreiung von den Büchern“. Papierherstellung, Buchdruck, Schriftsetzerei und -gießerei, Buchmarkt, Digitalisierung, Buchfertigung, die Schönheit des Buches und dessen Ende sind hier die Themen. Aber auch unter dem pessimistischsten Titel macht Bose Hoffnung: „Das Buch ist geblieben, was es war, und dennoch könnte man meinen, es würde gerade neu erfunden.“ Er sieht die Zukunft im lebendigen Experimentieren mit Stoffen und Formen, er meint, dass die Qualität der Stofflichkeit wichtig wäre. Eine Beruhigung ginge von dem aus, „was wir sehen und anfassen, was wir begreifen können und was schwer in unserer Hand liegt.“ Das Buntpapier, Kafkas Probleme mit dem Umschlag der „Verwandlung“, überhaupt Kafkas Zeichnungen, die Geschichte des Verlags, den Bose zusammen mit Erich Brinkmann gründete, und Leipziger Erinnerungen beschließen dieses – selbstverständlich auch typografisch auf allerhöchstem Niveau gefertigte – Buch. Speziell sind da die Schwarz-Weiß-Illustrationen und irgendwie auch passend die Textzeilen von Liedermachern unserer Tage: Bob Dylan textete 2020 in „Murder Fost Foul“: „If you wanna remember you better write down the names.“
Bose, Günter Karl: Elementum. Über Typografie, Bücher und Buchstaben, Göttingen 2020.