Otto „Otl“ Aicher, 1922, also vor 99 Jahren geboren und vor 30 Jahren gestorben, war einer d e r deutschen Grafikdesigner des 20. Jahrhunderts. Zur Erinnerung ein paar Daten: 1953 wurde er Dozent für Visuelle Kommunikation an seiner Hochschule für Gestaltung, ab 1967 war er Gestaltungsbeauftragter der Olympischen Spiele von München, seine damals entworfenen Piktogramme, also die Symbole, mit denen er Information durch grafische Darstellung vermittelte, sind heutzutage weltweit verbreitet. Als Wegbereiter des „Corporate Designs“, dem Erscheinungsbild, mit dem man ein Unternehmen identifiziert, war er einer derjenigen, die das Bild Westdeutschlands in der Nachkriegszeit prägten: Für Fluggesellschaften, Fernsehanstalten, Verlage, Banken und die Bundeswehr gestaltete er all das, mit dem sie in der Öffentlichkeit auftraten.
Das Buch „otl aicher / rotis“ ist als „Hommage an einen außergewöhnlichen Menschen“ gedacht, herausgegeben vom Verleger Gerhard Steidl und der Fotografin, Fotohistorikerin und Kuratorin Ute Eskildsen unter Mitwirkung des Fotografen Timm Rautert, des Schriftgestalters und Publizisten Dan Reynolds und des Professors für Systemdesign Oliver Klimpel.
„otl aicher / rotis“ befasst sich mit Rotis als dem Ort, in dem sich Aicher in seinen späteren Jahren ein Domizil erbauen ließ – und mit Rotis, der Schrift, die er dort entwarf. Der Ort Rotis liegt auf 650 Metern Seehöhe im deutschen Allgäu und dort wurden in den 1980er Jahren 6 Gebäude errichtet, davon ein Wohnhaus und vier Entwurfsateliers mit eigener Wasser- und Energieversorgung. Als sein kulturelles Ziel gab er an: „die Abschaffung des Gegensatzes von Kultur und Zivilisation“ und „die Rehabilitierung des Konkreten.“ Die Fotos von Timm Rautert vermitteln die besondere Atmosphäre der Anlage, als „bemerkenswertes Beispiel von Architektur, die voll in die Landschaft eingebettet ist.“ Hauptbestandteil des Buches aber ist, Zeugnis zu geben vom Entstehen einer Schrift, der Schriftfamilie „Rotis“. Weil Aicher überzeugt war, „dass unsere Schriftkultur noch lange nicht an einem Ende angekommen ist“ und er einen Beitrag an einer „offenen Schrift- und Lesekultur“ leisten wollte, entwarf er eine „bessere Schrift“, auch um den neuen Lesegewohnheiten entgegenzukommen. An dieser Arbeit lässt einen das Buch – ganz besonders auch durch die Fotografien von Timm Rautert – teilhaben. Man erfährt Grundsätzliches über den Wechsel von den dreidimensionalen Bleilettern hin zum Fotosatz. Aicher schrieb damals ein Buch über Typografie, in dem er seine Rotis-Schriften vorstellte. Jeder Grafik-Designer konnte von da an – also den späten 1980er Jahren – „eine bestimmte Variation aus einer Reihe verschiedener Essenzen bzw. Kontrasten auswählen.“ Für den Laien unserer Tage ist es ja kaum vorstellbar, dass da die meisten Buchstabenformen ursprünglich von Hand gezeichnet und dann digitalisiert wurden. Mit der speziellen Software Ikarus konnte das alles dann weiter manipuliert werden. (Heutzutage stehen den Grafik-Designern natürlich ganz andere technische Möglichkeiten zur Verfügung.) Dann wurde die Kontur des Buchstabens entweder auf Papier gezeichnet oder aus einer Kunststofffolie ausgeschnitten. Erst nachdem man den Buchstaben auf Lesegröße verkleinert hatte und ihn in Kontext mit anderen Buchstaben stellte, konnte er seine Qualität freigeben.
Das alles wird im Buch ausführlich und jedes Detail beachtend beschrieben. Die Bedeutung der Schrift und welche Rolle Rotis heutzutage noch spielt, ist dokumentiert. Im Schlussteil des Buches erzählen Mitarbeiter und Weggefährten von den Arbeits- und Lebensweisen Aichers. Da fällt einem auf, dass einer, der sich so viel mit Stil, mit Gestaltung beschäftigt, den Stil natürlich auch in sein tägliches Leben mit hinüberbringt, man könnte auch sagen, dass er sich und seine Lebensweise stilisierte. So dass man bei der Lektüre dieses Buches hin und wieder das Gefühl haben kann, eine Hagiografie zu lesen. Die exquisite Gestaltung, die Farbe des Papiers, das Layout und die Fotografien tragen dann noch das Ihre dazu bei. Es ist gut und schön, dieses Buch in der Hand zu haben, es zu lesen. Man wird ein Stück weit aus dem Alltagsgetriebe herausgehoben und in eine Welt versetzt, die es so wahrscheinlich nicht mehr gibt. Es macht einen darauf aufmerksam, wie gut es tut – besonders in unseren Tagen – mit Stil konfrontiert zu werden.
Rautert, Timm: otl aicher / rotis, herausgegeben von Ute Eskildsen und Gerhard Steidl, Göttingen 2021.