Das Künstlerhaus am Karlsplatz in Wien feierte am 13. Februar 1897 erstmals in der Faschingszeit kein Gschnasfest, sondern ein großes Fahrradfest mit dem Titel „All Heil“ – das war der Radfahrer-Gruß. Damit konnte die Gelegenheit wahrgenommen werden, dem k. k. Statthalter Erich Graf Kielmansegg für die neue Fahrradverordnung zu danken. Dem Fahrrad, diesem neuen Verkehrsmittel, wurde in Wien zum 1. Mai 1897 freie Fahrt sogar auf der Ringstraße gestattet.
„Der Radfahrsport sollte von Künstlerhand verherrlicht und auch geziemend scherzhaft behandelt werden“.[1] Zeitgleich fanden eine Ausstellung sowie ein Ball in den Sälen des Künstlerhauses statt. Die Kleiderordnung war streng auf das Fahrrad ausgerichtet: Sport- oder Phantasiedress waren erwünscht, Soirée-Garderobe oder gar Uniform waren verboten. Für die wärmere Jahreszeit, d.h. nach Inkrafttreten der Verordnung wurde ein großer Radfahr-Blumen-Corso im Prater geplant.
Drei Publikationen des Künstlerhauses erschienen anlässlich dieses Festes:
(1.) „Von Fall zu Fall“ – ein 8-seitiges illustriertes Radfahrblatt mit Zeichnungen und Texten als Festschrift,[2]
(2.) „Radlerei!“ – ein aufwendig illustriertes Buch mit launigen Gedichten[3] und
(3.) im schmalen Hochformat eine Broschüre zum Radfahr-Blumen-Corso, der am „26. Tage des Wonnemonats Mai“ unter dem Protektorat der verwitweten Kronprinzessin Stephanie und der Ehefrau des Statthalters, Anastasia Kielmansegg, begangen wurde. Die Fahrrad-Vereine aus dem In- und Ausland wurden eingeladen.
In Wien waren zahlreiche Fahrradvereine gegründet worden. Ihre Bezeichnungen bezogen sich u.a. auf Stadtteile und Berufsgruppen. Auf drei dichtbeschriebenen Seiten sind 1897 ihre Namen im Wiener Adressbuch „Lehmann“ nachzulesen. Dazu gehörten z.B. auch der Verein der k. k. Staatsdruckerei und der Verein der k. k. Staatsbeamten.[4] Das Künstlerhaus hatte seinen Radfahrer-Club 1896 gegründet. Diese Vereine hatten vor allem die Funktion, die Wiener Bevölkerung mit dem neuen Verkehrsmittel vertraut zu machen. Ohne erfolgreich die Schulungs- und Trainingskurse absolviert zu haben, durfte man sich nicht auf die wenigen zunächst dafür freigegebenen Stadtstraßen wagen. Am 1. Januar 1893 war die erste „Fahrordnung für Radfahrer im Wiener Polizei Rayon“ in Kraft getreten.[5] Jeder Radfahrer benötigte eine von der k. k. Polizei-Direction ausgefertigte Lizenz als offiziellen Nachweis der Fahrbefähigung. Auch für das neue Fahrzeug gab es strenge Vorschriften: Es musste eine Bremsvorrichtung, eine (Petroleum-)Laterne, eine Glockenvorrichtung sowie ein Nummernschildchen aufweisen und durfte nicht „glänzend poliert“ sein. Es gab zeitliche und vor allem örtliche Restriktionen und Anforderungen, auf andere Verkehrsteilnehmer Rücksicht zu nehmen. „Den Wägen des Allerhöchsten Hofes und den Fuhrwerken der Feuerwehr muss ganz ausgewichen werden und es hat nötigenfalls der Radfahrer abzusitzen.“ Die Fahrradclubs boten das Training auf eigenem Gelände und auch innerhalb von Gebäuden an. In der ausstellungsfreien Zeit wurde sogar im Künstlerhaus einer der Säle für Trainingszwecke zur Verfügung gestellt.
Endlich, nach fünf Jahren waren die Wiener Radler offenbar so gut geschult, dass im gesamten Stadtgebiet das Fahrrad als Verkehrsmittel anerkannt werden konnte. Ab dem 1. Mai 1897 sollte das Radfahren auf den Straßen Niederösterreichs allgemein zugelassen und auf die Fahrradnummerntafeln verzichtet werden.[6]
Der kaiserliche Statthalter für Niederösterreich Erich Graf Kielmansegg war für diese Aufgabe nicht nur zuständig, sondern er war auch ein begeisterter Radler. Der Maler Carl Pippich, selbst Clubmitglied des Radfahrerclubs des Künstlerhauses, hatte ein Gemälde vom Statthalter geschaffen. Verbunden mit einem Dankgedicht von Eduard Pötzl zeigt das elegant ausgestattete Radfahr-Buch des Künstlerhauses ein Foto des Gemäldes mit dem Grafen hoch zu Rad in Begleitung von Feuerwehrmännern. Das Foto bekam von dem Grafiker und Architekten Joseph Urban eine Umrahmung in Form einer stilisierten Landschaft vor der aufgehenden Sonne.[7]
Das Künstlerhaus konnte zur Erstellung des Buches mit dem Titelbild eines im Gold geprägten Speichenrads und dem Bein einer radelnden Dame den Wiener Kunstverlag Gerlach & Schenk gewinnen. Dieser Verlag genoss bei den Künstlern u. a. durch die großformatigen Vorlagenbände „Allegorien und Embleme“ hohes Ansehen. Clubmitglieder lieferten für das Buch amüsante Gedichte und Zeichnungen sowie die Fotos von Gemälden und Skulpturen, und zwar fast alle mit Bezug auf die Radlerei.
Carl Otto Czeschka (1878–1960), seit 1894 Student an der Wiener Akademie der bildenden Künste, war noch kein Mitglied der Künstlerhaus-Genossenschaft, er war aber bereits dem Radfahrer-Club beigetreten. Er wohnte im Stadtteil Fünfhaus, wo es die „Fünfhauser Cylisten“ gab, aber er suchte den Kontakt zu den erfolgreichen älteren Kollegen des Künstlerhauses.
Da die Mitglieder des Radfahrclubs in die Gestaltung des Buches maßgeblich einbezogen wurden, war dies ein großer Ansporn für den 19-jährigen Studenten, sich zu beteiligen. Der Erfolg blieb nicht aus. 17 seiner Grafiken wurden ausgewählt. Mit insgesamt 110 Abbildungen ging das Buch in Druck: Von Theo Zasche wurden elf, von Franz Stuck und Hans Schliessmann jeweils sechs und von Heinrich Lefler vier Zeichnungen verwendet. Czeschka hatte Allegorien sowie Szenen aus dem Leben eines Radlers vorgelegt, z.B. wenn er unterwegs Hunden, Gänsen oder Schweinen in die Quere kommt oder abgekämpft die Kilometer zählt oder sich mit einer ebenfalls radfahrbegeisterten Freundin trifft.
Dieses Buch wurde eine Rarität. Heute gibt es gemäß „Worldcat“ in den großen internationalen Bibliotheken von „Radlerei! 42 Tafeln“ nur drei Exemplare und zwar in der Albertina in Wien, in der Britisch Library in London und in Ottawa im Canada Science and Technology Museum. Zwei weitere Wiener Bibliotheken, die Österreichischen Nationalbibliothek am Heldenplatz sowie die Bibliothek des Fachbereichs Sportwissenschaft der Universität führen es ebenfalls in ihrem Bestand, jedoch unter einem leicht veränderten Titel „Radlerei! 40 Tafeln“. Diese Ausgabe gibt es außerdem im Archiv des Künstlerhauses, in der Oberösterreichischen Landesbibliothek in Linz, dreifach in Berlin, zweifach in Köln, jeweils ein Exemplar in Hamburg-Altona, in München sowie in der Indiana University in Bloomington/In. Derzeit wird sie auch von vier Antiquariaten angeboten mit Preisvorstellungen zwischen 320 und 490 Euro.
Zunächst machen die beiden Versionen den äußeren Eindruck, sie seien völlig identisch. Doch in der zweiten Ausgabe gibt die Anzahl der Tafeln – 40 Tafeln statt 42 Tafeln, bzw. 81 Seiten statt 84 Seiten – die leicht zu übersehende Andeutung auf einen unerklärlichen Vorgang. Nicht nur der Name „Carl Otto Czeschka, Akademiker“ war aus der Liste der Zeichner gelöscht, auch alle seine 17 Zeichnungen fehlen in der zweiten Ausgabe des Buches. Durch die direkte Gegenüberstellung der beiden Bücher wird ersichtlich, wie die Verschiebungen der verbliebenen 93 Abbildungen im Layout diese Umgestaltung geschickt kaschieren. Auf zwei Tafeln wurde dennoch verzichtet und ebenfalls fehlt das umfangreiche seitengenaue Verzeichnis zu den Verfassern der Abbildungen und der Texte.
Die Frage, was geschehen war, konnte bisher definitiv nicht beantwortet werden. Ein Aktenvorgang im Archiv des Künstlerhauses war nicht zu finden. Auch von Czeschka existiert keine Äußerung zu einer Auseinandersetzung mit dem Künstlerhaus, der zur Folge einen so großen Aufwand in Form einer zweite Ausgabe hatte. Betrachten wir den Zeitpunkt um 1896/1897, dann muss man auf einen Bezug zu dem Konflikt zwischen der Künstlergenossenschaft und den Secessionisten schließen. Ende 1896 war es unter den Wiener Künstlern bekanntlich unruhig geworden und die Auseinandersetzung eskalierte ausgerechnet in der Zeit vor und nach dem Fahrradfest im Februar 1897.
30. November 1896
Bei der Vorstandswahl im Künstlerhaus wird der konservative Maler Eugen Felix erneut für zwei Jahre zum Präsidenten gewählt, wie bereits 1874/76 und 1888/90.
5. Dezember 1896
Die Ausstellungskommission für die 25. Jahresausstellung im Künstlerhaus tagt. Über die konservativ ausgerichtete Kommission und deren Auswahl der Bilder gibt es heftige Wortgefechte.[8]
13. Februar 1897
Das Gschnasfest findet als Fahrradfest »All Heil« in den Sälen des Künstlerhauses statt.
24. März 1897
Die 25. Jahresausstellung des Künstlerhaues wird von Kaiser Franz Joseph I. eröffnet.
3. April 1897
Gründung der Secession durch Gustav Klimt, Koloman Moser, Josef Hoffmann, Joseph Maria Olbrich, Max Kurzweil, Josef Engelhart, Ernst Stöhr, Wilhelm List, Adolf Hölzel und andere Künstler. Die Secession war zunächst nur als Unterorganisation unter dem Dach des Künstlerhauses vorgesehen.
22. Mai 1897
Es geht auf der turbulenten außerordentlichen Generalversammlung der Künstlerhaus-Genossenschaft auch um die Beteiligung auf Ausstellungen in Dresden und München. Eine „Missbilligung“ durch den Genossenschaftsvorstand bewirkt den Bruch zwischen den beiden Vereinigungen. Daraufhin verlassen die Secessionisten die Versammlung und treten aus der Genossenschaft aus: Rudolf von Alt, Rudolf von Ottenfeld, Josef Anton Engelhart, Carl Moll, Gustav Klimt, Felician v. Myrbach, Julius Mayreder, Rudolf Bacher, Anton Nowak, Joseph Maria Olbrich, Hans Tichy, Max Kurzweil, Wilhelm List, Kolo Moser, Josef Hoffmann, Ernst Stöhr, Ludwig Sigmundt und andere. [9]
26. Mai 1897
Im Prater findet als großes Fest der „Fahrrad-Blumen-Corso statt“.[10] 2000 Radfahrerinnen und Radfahrer aus allen Teilen Europas sind gekommen. Joseph Urban hat in repräsentativer Architektur die Hofloge entworfen, wo sich während des Corsos die Mitglieder der kaiserlichen Familie aufhalten können. [11]
Wie der junge Czeschka zwischen die Mühlsteine geraten ist und quasi abgestraft wurde, ist nicht bekannt. Ein „Fehldruck“ kann die erste Ausgabe nicht gewesen sein, denn im Oktoberheft 1898 von Ver Sacrum ist in einer Verlagsanzeige von Gerlach & Schenk das Radlerei-Buch mit „42 Tafeln“ genannt.[12] Auch käme ein Fehldruck wohl kaum in die Bibliothek der Albertina sowie nach London und nach Kanada.
Oder war es der Akademiestudent Czeschka vielleicht selbst gewesen, der einen „Anlass“ für die Entfernung seiner Zeichnungen gegeben hatte? Wir wissen es nicht. Vielleicht hat er für die Secessionisten Stellung bezogen? Vielleicht hat er sich in Gesprächen verwundert darüber geäußert, dass seine Lehrer in der Akademie Griepenkerl, Eisenmenger, Berger und Rumpler in den Ausstellungen des Künstlerhauses schon lange nicht mehr berücksichtigt worden waren,[13] und einer von ihnen, Franz Rumpler, stattdessen eine neue Ausstellungsmöglichkeit gefunden hatte, nämlich in der erst 1896 eröffneten professionell gemanagten Galerie Miethke?[14]
Über die Elimination seiner Grafiken aus dem Fahrradbuch muss Czeschka zutiefst getroffen gewesen sein. Dann jedoch passierte etwas völlig Unerwartetes. Es eröffnete sich für seine Arbeit eine neue Perspektive. Der Verleger Martin Gerlach, der den jungen begabten Studenten durch seine Zeichnungen für das Buch kennengelernt hatte, muss ihm zu diesem Zeitpunkt das Angebot gemacht haben, in Zukunft direkt für den Verlag zu arbeiten. Diese Chance, die der angesehene und bewunderte Verleger anbot, wog die Enttäuschung über die Kollegen des Künstlerhauses auf. Die Begegnung mit Gerlach durch das Buch „Radlerei!“ wurde für den jungen Czeschka schicksalhaft.
Martin Gerlach hatte schon in früheren Jahren ein Gespür für junge Künstler bewiesen und er wusste sie zu fördern. Für seine Publikationen „verpflichtete er vor allem aufstrebende Namen und suchte nach neuen Talenten unter jungen Illustratoren“.[15] So hatte er 1892 bereits den 19-jährigen Franz Stuck für zahlreiche Zeichnungen in den Mappen „Allegorien und Embleme“ gewinnen können, später auch Koloman Moser. Gerlach förderte die jungen Künstler durch ihre Beteiligung an Projekten des Verlags. Nicht nur der Student Franz Stuck kam in den Genuss der guten Honorierung durch den Wiener Verlag.
In seinen knappen Notizen erinnert sich Czeschka an Gerlach mit folgenden Sätzen: „[Ich] machte mich selbständig. Ich hatte bereits Aufträge für den Verleger Gerlach u. Wiedling in Wien. Vorlageblätter und ‚Allegorien und Embleme‘ und alle möglichen illustrativen Dinge, die wöchentlich anfielen. Er bezahlte gut, auch für Angerer u. Göschl. Verschiedenes für Druck. Für Gerlachs Jugendbücher. Das wichtigste „Die Nibelungen“.[16]
Gerlach bereitete 1897 bereits ein neues Mappenwerk vor: „Allegorien. Neue Folge“. Mit 120 Tafeln wurde es 1900 fertiggestellt. In Abkehr vom Historismus schrieb Gerlach in seinem Vorwort: „Es lag schon lange ein verlockender Reiz in dem Gedanken, einige besonders gestaltungsfähige Themata aus den erschienenen Allegorien im Geiste der modernen und modernsten Kunst von jungen, impulsiv schaffenden Talenten neuerdings bearbeiten zu lassen. [….] Deutsche und österreichische Künstler erfassten in ihrer Eigenart mein Bestreben und belebten die alten Begriffe durch gedankenvolle Compositionen, durch junge, weltfrohe Gestalten mit reichem modernstilistischem Beiwerk“.
Hierfür konnte Gerlach u.a. Julius Diez, Heinrich Lefler, Gustav Klimt und Kolo Moser und nun auch Czeschka gewinnen. Hoch motiviert begann Czeschka noch im selben Jahr mit dem ersten Blatt: Nr. 106 „Tanz und Wein“. Vier weitere Tafeln sind auf das Jahr 1898 datiert: – Nr. 93 „Wissenschaft“, Nr. 78 und Nr. 85 „Jagd“ und Nr. 114 „Vignetten“. Es wurden insgesamt neun Tafeln,[17] zwei weniger als von Koloman Moser.
Bis in seine Hamburger Zeit dauerte Czeschkas Zusammenarbeit mit dem Verleger Martin Gerlach. 1902 erschienen in der Gerlach-Reihe „Die Quelle“ 30 Tafeln von Czeschka mit dem fantasievollen Namen „Allerlei Gedanken in Vignettenform“. Ebenso wie 1886 für die Mappe von Franz Stuck „Karten und Vignetten“ gewährte Gerlach auch Czeschka die Autonomie, Themen selbst auszuwählen. Hinzu kamen zwei kleine Bände aus der Reihe „Gerlach‘s Jugendbücherei“, die Czeschka illustrierte. In dem Band 14 von 1905 sind verschiedenartige Grafiken den Texten von Johann Peter Hebels „Erzählungen und Schwänken“ zugeordnet. Von besonderer Qualität wurde 1908/1909 der kleine Band 22 „Die Nibelungen – wiedererzählt von Franz Keim“ mit Czeschkas Illustrationen. Sie wurden weltberühmt. Dieses Büchlein wurde fertiggestellt, als Czeschka bereits als Lehrer an der Hamburger Kunstgewerbeschule tätig war.
Doch zuvor sind im Zusammenhang mit Czeschka auch die Veränderungen des Verlags Gerlach & Schenk aus dem Jahr 1901 erwähnenswert: In den Festräumen des Wiener Rathauses gab es im März 1901 die „Kunst-Ausstellung Gerlach & Schenk“ mit fast 2000 Exponaten aus 30 Jahren der Verlagstätigkeit. Es waren Ölgemälde, Aquarelle und Zeichnungen und damit auch zahlreiche Originale aus den Mappenwerken des Verlags. Von Czeschka waren 36 Grafiken darunter, neun davon zu der „Radlerei!“. Aus der „Radlerei!“ stammten 26 weitere Arbeiten von 15 anderen Club-Zeichnern. Der Ausstellungskatalog, der heute in der Wienbibliothek einzusehen ist, nennt die genauen Seitenzahlen – und zwar bezogen auf die Erstausgabe. Das betrifft Czeschkas Zeichnungen ebenso wie die Abbildungen, die für die zweite Ausgabe transloziert wurden. Martin Gerlach sah also die erste Ausgabe als die entscheidende Fassung an und würdigte damit auf dezente Art die Arbeit des jungen Czeschka für den Verlag.
Martin Gerlach und Ferdinand Schenk hatten durch die Ausstellung ihre beachtliche Sammlung bei Bürgermeister Dr. Lueger und bei dem Gemeinderat bekannt gemacht. Das war strategisch geschickt eingefädelt. Schenk wollte einen eigenen Kunstverlag aufbauen, deshalb vereinbarten die beiden Partner die Trennung. Um die zukünftige Arbeit beider Verlage finanziell zu sichern, boten sie im Sommer 1901, also wenige Monate nach der Ausstellung, der Gemeinde Wien an, die Sammlung insgesamt zu erwerben.[18]
Dies löste im Juli 1901 innerhalb des Gemeinderats heiße Debatten aus. Das Künstlerhaus fühlte sich berufen, Stellung zu beziehen. Es richtete einen Brief an den Bürgermeister mit der Aufforderung, die Sammlung n i c h t zu kaufen. Als Argument hieß es, die Sammlung sei „ihrem Zwecke entwachsen“, da die Reproduktionen ihren instruktiven Zweck für die Kunstgewerbetreibenden vollkommen erfüllt haben. Mit den Mitteln solle vielmehr die heimische Kunst durch Ankäufe gefördert werden. [19]
Diese Ablehnung der Genossenschaft verwundert, denn Teile der großen Sammlung waren bereits im Sommer 1885, im Winter 1892/93 und im Herbst 1896 innerhalb des Künstlerhauses ausgestellt gewesen. Was waren die wahren Gründe für die Haltung des Künstlerhauses? War es der Versuch, die Nutznießer des Kaufes, die Verleger Gerlach und Schenk finanziell zu schwächen, nachdem bei Gerlach & Schenk 1898 der erste Jahrgang von VerSacrum und 1900 die „Allegorien. Neue Folge“ erschienen waren?
Der 1900 gegründete „Hagenbund“ sprach sich in seinem Schreiben an Bürgermeister Dr. Lueger f ü r den Ankauf durch die Stadt Wien aus und am 25. Juli 1901 bewilligte der Gemeinderat nach intensiver Debatte in namentlicher Abstimmung mit 37 Ja- und 28-Nein-Stimmen die Freigabe von 108.000 Gulden / 216.000 Kronen für den Erwerb des gesamten Konvoluts.
Heute muss man froh und dankbar darüber sein, dass der Wiener Gemeinderat 1901 der Aufforderung der Künstlerhaus-Genossenschaft nicht folgte, so dass die einmalige Sammlung von Gerlach & Schenk insgesamt in Wien blieb. Dazu gehören Czeschkas Grafiken, die der Verlag publiziert hatte. Es sind die ältesten Blätter, die 1990 in dem von Senta Siller erstellten Werkverzeichnis genannt wurden. Seine früheren Arbeiten hatte Carl Otto Czeschka nicht aufbewahrt.
Herrn Henner Steinbrecht wird für die freundliche Genehmigung zur Publikation der Werke von Carl Otto Czeschka herzlich gedankt.
[1]Wiener Zeitung, 3. Januar 1897, S. 7.
[2] Archiv des Künstlerhauses.
[3] „Übersicht aller Feste“, in: www.wladimir-aichelburg.at
[4] J. M. Olbrich baute für den Fahrradclub der Staatsbeamten 1898/99 das Vereinshaus am Rand des Praters in der Rustenschacherallee 7.
[5] Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 29.11.1892.
[6] Illustrierte Sport-Zeitung, 18.4.1897, S. 3f.
[7] Von Joseph Urban wurde eine visionäre „Studie für eine Haltestelle der Rad-Stadt Hoch-Bahn“ ebenfalls in dem Buch veröffentlicht.
[8] Deutsches Volksblatt 27. März 1897, S. 1.
[9] Neues Wiener Journal, 23.5.1897, S. 6; Neues Wiener Tagblatt, 26.5.1897, S. 5. Czeschka wurde erst am 28. November 1900 zum Mitglied der Secession ernannt und trat bei deren Ausstellungen kaum in Erscheinung.
[10] Bericht im NWJ 27.5.1897, S. 4.
[11] Kristan, Markus: Joseph Urban. Die Wiener Jahre de Jugendstilarchitekten und Illustrators 1872-1911, S.157f.
[12] Ver Sacrum 1898 Oktober-Heft, S. 33.
[13] Deutsches Volksblatt, 27.3.1897, S.1.
[14] Neues Wiener Journal, 18.4.1897, S. 11 und Reichspost 27.5.1897, S.7.
Die 3. Ausstellung der Galerie Miethke mit 230 Werken Franz Rumplers eröffnete leicht zeitversetzt zur 25. Jahresausstellung des Künstlerhauses am 3. April in der Dorotheergasse 11.
[15] Kennedy, Julie, in: „Sünde und Secession. Franz von Stuck in Wien“, Ausstellungskatalog des Belvedere, Wien 2016, S.11ff.
[16] Aus Czeschkas Nachlass im MKG Hamburg.
[17] Heinzle, Laura Andrea: Die Allegorien Carl Otto Czeschkas und die „Neue Allegorie“ der Wiener Moderne, Wien 2016.
[18] Neues Wiener Journal, 6.7.1901, S.3.
[19] Reichspost 14.7.1901, S.3.