Den kalten, präzisen Rhythmus dieser Stadt stört das „Wahlfieber“ nicht. Mögen die Litfaßsäulen die gedruckten Bekenntnisse der Parteien, die bewußt übertriebenen Versprechungen, die agitatorisch ausgebeuteten Weltanschauungen, die in farbiges Bild heimgekehrten Phrasen und Methaphern über die Straße rufen. Keinen einzigen sah ich, der Geduld, Zeit und Lust gehabt hätte, ein Programm zu lesen. Keinen, der nicht den erhaltenen Flugzettel sofort wieder flattern gelassen hätte. Vielleicht dringt nur ein sehr suggestives Bild von starker Plötzlichkeit in die Netzhaut dieses Menschentypus, der nur Arbeit kennt und Amüsement. Vielleicht ist dieser Fanatiker der Sachlichkeit, der Präzision, des Antifanatismus in seiner politischen Überzeugung so gefestigt, daß keine übereilige und in einer einzigen Woche gesteigerte, in Schlagworten und Litfaßsäulen, Reden und Mauerecken komprimierte Agitation ihn überzeugen kann. Der gerechte Beobachter muß allerdings feststellen, daß kein einziges der vielen Wahlbüros auch nur ein Zehntel jener suggestiven Phantasie aufgebracht hat, die in den Propaganda-Abteilungen der Fabriken, der Firmen, der Warenhäuser, der Modistinnen und der Schneiderateliers zu finden ist.
Die nüchterne Bürokratie der Berliner Wahlpropaganda aller Parteien beschränkt sich auf die alten, schlecht erprobten Mittel. Sie bedruckt lange Zettel aus grauem, porösem Papier mit kleiner Schrift, übrigens meist Frakturschrift, die ein amüsantes typographisches Bild ergibt. Aber nicht ein einziges dieser vielen vergeblich verschleuderten Worte springt aus den schwindelerregenden Zeilen als bannender, gellender, erschütternder optischer Schrei. So viele Parteien es gibt und sosehr manche sich anstrengen, die anderen als „undeutsch“ zu brandmarken – diese Propaganda beweist, wie sehr deutsch sie alle sind. Wie fremd allen zusammen die lauten Mittel der äußeren Wirksamkeit sind. Wie alle sich bemühen, mit redlicher Naivität durch eine minutiöse Erörterung der Grundsätze zu überzeugen und – zu langweilen. Und selbst in der Übertreibung bleibt jeder noch schüchtern. In der Lüge noch furchtsam. Man arbeitet mit dem schweren, pathetischen Rüstzeug der Ethik, wenigstens der landläufigen. Keine Flamme zuckt von den Wänden. Kein Schrei hallt von der Litfaßsäule. Die Ankündigungen der Varietés, der Kinos, das Selbstlob der Zigaretten, die Inbrunst der geschäftlichen Reklame, ihr nächtliches Feuer über den Dächern des Potsdamer Platzes ersticken, betäuben jeden politischen Schlachtruf in einer Flut von Licht und Schrei und Farbe. Die Maschinerie dieser halbamerikanischen Stadt bleibt präzise und verrichtet ihre tausendfältige, nüchterne Funktion ohne Leidenschaft, ohne auch nur von einem Hauch des politischen Kampfes gestreift zu werden.
In den Berliner Boulevardblättern lese ich krampfhafte Bemühungen der prinzipiellen Feuilletonisten, den „Wahlkampf“ zu schildern. Es ist, als beobachten sie die Phasen und Symptome der Wahlzeit durch ein stark vergrößerndes Teleskop und alles andere durch ein verkleinerndes Glas. So besorgen sie einen Teil der Wahlbürogeschäfte, allerdings aller zugleich, und bauschen Auseinandersetzungen zu Weltkriegen auf. Wer diese Schilderungen liest und die Stadt nicht kennt, müßte glauben, daß sich in Berlin politische Wildwestkämpfe zwischen Rednern und Plakaten abspielen. In Wirklichkeit ist es gar nicht so. Ein paar halbwüchsige Jungen schleichen durch die Nächte als „Kleisterpatrouillen“, reißen Plakate herunter, kleben neue. Aber sie fallen nur dem suchenden Auge auf und verschwinden in der Menge der schleichenden Zuhälter, der aufgedonnerten Straßenmädchen, der liebehungrigen Spaziergänger, der torkelnden Betrunkenen. Der Betrieb des „Verjnijens“, der rastlos und gutgeölte Mechanismus der „Sensation“, des „Amüsemangs“, des Spielklubs, der Nackttänze absorbiert alle Kräfte des Wählers. Und nur am Vormittag in den – Markthallen hörte ich die Frauen mit den Markttaschen politisieren. Zwischen den Gemüseständen entbrennt der Wahlkampf am hitzigsten. Die Märkte sind die Wahlschlachtfelder Berlins. Es muß im Namen der Wahrheit gesagt werden.
Allerdings ist am Potsdamer Platz ein deutsches Blätterwäldchen gepflanzt worden. Seine jungen Stämme heißen: „Völkischer Ratgeber“, „Kampfbund“, „Deutscher Ring“, „Deutsches Tageblatt“ und sind mit unvermeidlichen Hakenkreuzen versehen, die man heutzutage tief in alle Rinden einschneidet. Auf den Zeilen-Ästen zwitschern schwarz-weiß-rote Phrasen. Auf moosigem Feuilletongrund wuchert bläulich die Knopflochblume der Vereinsromantik. Hier sucht das wandernde Auge vergeblich nach einer Lichtung der Vernunft. Die pathetisch bemoosten Stämme lassen keinen frischen Windhauch eines Witzes durch. Man stolpert über ungrammatikalische, antigrammatikalische Schlingpflanzen. Sprachliche Laster blühen in den gähnenden Schlünden der Leitartikel. Man hört das monotone Hacken des nationalistischen Buntspechts.
Aber diese Zeitungen finden nur Kolporteure. Und ich bin ihr einziger Käufer.
Nur an Sonntagen sieht man politische Wandervögel mit Sandalen, Knüppeln, Messern. In den Wäldern schlingen sie Reigen, schwärmen für die Natur und liefern einander Schlachten. Es ist eine seltsame, eine unverständliche Jugend. Sie leugnet Gott und betet zu Götzen. Sie übernimmt vom Heldentum den Blutrausch, aber nicht seine scheue Natur- und Herzensfrömmigkeit. Man kann sie auf den Bahnhöfen sehn, die blühenden, weizenblonden, jungen Mädchen, die zu Müttern bestimmt sind und sich zu politischen Furien entwickeln. Sie tragen entstellende Windjacken, breite Schöße und kurzgeschnittenes Haar. Sie schreiten mit unnatürlich breiten Marschschritten, gebärden sich lächerlich männisch, aber die Natur rächt sich, sobald sie „Heil!“ und „Pfui!“ schreien, und verleiht ihren Stimmen die abschreckende Grellheit der Hysterie.
Frankfurter Zeitung, 29. 4. 1924