„Die Buchhandlung Perles beginnt nach längerer Pause wieder mit der Veranstaltung von graphischen Ausstellungen. Es ist herzlich zu begrüßen, daß sie dabei mit der Jugend anfängt. Wir erleben zunächst ein Debüt,“ vermerkte der renommierte Wiener Kunstkritiker Wolfgang Born im Herbst 1932 und meinte mit dem Debüt jenes der jungen Grafikerin Lizzi Pisk: „Lizzi Pisk ist eigentlich Tänzerin. Aber sie hat auch Zeichnen gelernt. Nun faßt sie diese beiden scheinbar so fernliegenden Gebiete zusammen. Was dabei herauskommt, ist recht originell und erfreulich. Den Uebergang vom Tanzen zum Zeichnen bilden Kostümentwürfe. Sie haben zunächst den Vorteil, aus einer intimen Kenntnis der Aufgabe heraus entstanden zu sein – was bei einem Nur-Maler selten zutrifft. Aber sie sind zweitens geschmackvoll – und das ist Sache des Talents.“[1]
Geboren wurde die vielseitig begabte und später international erfolgreiche Künstlerin am 22. Oktober 1909 im 2. Wiener Gemeindebezirk, Lessinggasse 8, als Alice Pisk[2]. Im Geburtsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde ist auch ihr hebräischer Vorname eingetragen, der Reisel lautete[3]. Offenbar in Erinnerung daran hat Alice Pisk später manchmal auch Therese als Mittelnamen geführt. Pisk bevorzugte in ihrer Zeit in Österreich vornehmlich die Namensform Lizzi, aus der dann später in Großbritannien Litz wurde. Die Begründung für diese Änderung findet man in einem Brief an den österreichischen Autor Hans Weigel, in dem sie auf einem Briefpapier mit dem Aufdruck „Litz Pisk“ schrieb: „Warum ich seit 30 Jahren wie oben heisse ist kompliziert. (Lizzi wird hier mit weichem z gesprochen & kommt von Elizabeth) (Alice Therese, A.T.P. oder L.T.P. ist für Dokumente, Bank etc.)“[4]
Ihre Eltern waren Anna, geborene Karpeles (1877–1928), und Sigmund Pisk (1867–1933). Beide stammten aus dem Weinviertel in Niederösterreich.[5] Alice wuchs als jüngstes von vier Kindern mit drei Brüdern in einer wohlsituierten, bürgerlichen, jüdischen Familie in Wien auf. Ihr Vater war gemeinsam mit seinem Bruder Gustav Eigentümer der Firma „Brigittenauer Molkerei“ im 20. Wiener Gemeindebezirk, in der Nordwestbahnstraße 71. Der Betrieb spielte eine nicht unerhebliche Rolle bei der Versorgung der Wiener Bevölkerung mit Frischmilch und Milchprodukten, wie Butter, Sahne, Süßrahm und Joghurt. So wurden etwa im Jahr 1926 nicht weniger als 343 Geschäfte in Wien von dieser Molkerei beliefert.[6]
Ihren kreativen Begabungen entsprechend begann Lizzi bereits mit 15 Jahren, also im Jahr 1924, an der Wiener Kunstgewerbeschule (heute Universität für angewandte Kunst) zu studieren. Sie war zunächst Schülerin bei dem auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen spezialisierten Franz Čižek, wo sie „Allgemeine Formenlehre“ lernte, und sie absolvierte bei Rudolf Larisch das Fach „Ornamentale Schrift und Heraldik“.[7]
Die langjährige Tätigkeit von Čižek an der Kunstgewerbeschule zeitigte gerade Mitte der 1920er Jahre entsprechende internationale Erfolge. Die Arbeiten seiner Klasse wurden 1922 in den Niederlanden und in den Jahren 1923 und 1924 in einer Wanderausstellung in den USA präsentiert.[8] Beeinflusst von Kubismus und Futurismus war unter Čižeks Leitung eine eigene Wiener Interpretation der damals aktuellen Stilrichtungen entstanden – der sogenannte Kinetismus. Im selben Jahr, in dem Lizzi Pisk an der Kunstgewerbeschule begann, erläuterte Franz Čižek im Kreise des Fachkollegiums seine Arbeit als Lehrender: „Meine bisherige Tätigkeit wird viel mißverstanden, meine Abteilung ist eine rein rhythmische. Von dem Ornament im engeren Sinn mußte ich absehen. Es ist ermüdend, immer nur Muster herzustellen. […] Ich habe daher meine Schule zu einer rhythmischen gemacht, in der Überzeugung, daß der Rhythmus die Grundlage jedes Kunstgewerbes ist. Das Naturstudium kann nie bestimmend sein für die Gewinnung ornamentaler Gebilde. Ich habe mir gesagt, der Rhythmus kann nicht gewonnen werden aus alten Formeln, sondern aus dem Leben.“[9]
Diese Aussage Čižeks passt auch perfekt zum künstlerischen Lebenswerk von Litz Pisk, der es gelang, ihre grafische Begabung mit ihren Talenten in den Bereichen Tanz und Schauspiel harmonisch zu verbinden.
1926/27 belegte Pisk den Kurs „Zeichnen und Formen nach der menschlichen Figur“ bei Erich Mallina.[10] Dazu resümierte sie später: „During this period I also began to feel that the imposed stillness of the model in a conventional life drawing class interested me less than the human body in action or at rest. At the same time I joined in classes of all sorts related to movement – Laban, ballet, folk, national and even acrobatic. So full of these ideas and experiences, I finally started my studies with Strnad.”[11]
Oskar Strnad war in der Zwischenkriegszeit nicht nur ein bedeutender Architekt, sondern ebenso ein erfolgreicher Bühnenbildner. Er unterrichtete an der Kunstgewerbeschule, wo Litz Pisk bei ihm in den Jahren 1927/28 in der Fachklasse für Architektur studierte[12]. Außerdem gehörte Strnad als Lehrender zum prominenten Team des Wiener Reinhardt-Seminars. An dieser bedeutenden Ausbildungsstätte für Theaterschaffende war Pisk dann von Oktober 1931 bis Juni 1932[13] Gasthörerin in Strnads Bühnenbildklasse. [14]
Eine weitere für Pisks künstlerische Entwicklung wichtige Persönlichkeit war die renommierte Tänzerin und Choreographin Hilde Holger. Diese hatte 1926 eine „Schule für Bewegungskunst“ gegründet[15] und führte ab 1927 gemeinsam mit Grete Kollmann die „Neue Schule für Bewegungskunst“[16]. Pisk war zunächst Holgers Schülerin[17] gewesen und war dann, von September 1928[18] bis Mai 1929[19] gemeinsam mit Hilde Holger Ko-Eigentümerin der „Neuen Schule für Bewegungskunst“. Doch bald machte sie sich als Lehrerin selbständig und eröffnete am 1. Oktober 1929 eine eigene „Schule für Gymnastik und künstlerischen Tanz“ [20], die im Dezember 1929 vom Wiener Stadtschulrat als „Privatlehranstalt für Gymnastik und künstlerischen Tanz sowie für ornamentales und figurales Zeichnen“ offiziell genehmigt wurde[21].
In diesen Jahren begann sich Pisk auch als Kostümbildnerin zu etablieren: So entwarf sie sowohl für eine Tanzproduktion von Hilde Holger[22] als auch für eine Komödien-Produktion des „Neuen Wiener Schauspielhauses“[23] die Kostüme. Und sie veröffentlichte erste Arbeiten als Zeichnerin: Für die „Kindernachmittage“ der jungen Schauspielerin Edith Dorn gestaltete Pisk die Lichtbilder, unter anderem zum Thema „Eine fröhliche Märchenfahrt nach England“.[24] 1930 entwarf sie das Titelblatt der Berliner Fachzeitschrift „Der Tanz“[25], für die populäre Wiener Illustrierte „Die Bühne“ konnte sie ab 1931 ihre unverkennbaren Karikaturen beisteuern.[26]
Das Jahr 1932 brachte einen Höhepunkt in der frühen Karriere der damals erst zweiundzwanzigjährigen Lizzi Pisk: Im April fand im Raimundtheater die Wiener Premiere von „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Kurt Weill und Bertolt Brecht statt.[27] Für die Organisation des Projekts war der später als Autor und Theaterkritiker bekannte Hans Weigel zuständig, der ein Freund von Lizzi Pisks Bruder Gerhart war[28], und ihr wurde die Gestaltung des Bühnenbildes übertragen, das sie radikal minimalistisch anlegte. Weigel erinnerte sich später: „Lizzi Pisk machte die Dekorationen, die im wesentlichen aus drei verschieden langen Stangen bestanden.
Lizzi Pisk, damals hauptberuflich Leiterin einer Gymnastikschule, aber auch Hörerin des Reinhardt-Seminars, genialisch allround-begabt, ist seit damals eine grosse Freundin, auch wenn sie schon längst in Grossbritannien lebt. Sie ist Regisseurin, Zeichnerin, Choreographin und was weiss ich nicht noch alles, wir korrespondieren durch die Jahrzehnte miteinander und sehen einander, so oft es geht (eh selten genug). Sie war meine erste Gesprächspartnerin am Tor in die Welt des Theaters, sie hat mich vom interessierten Dilettanten einen ersten Schritt weiter an die Profession herangeführt. Ich ging mit ihr in Generalproben und Theatervorstellungen und lernte allmählich zu wissen, wovon ich sprach, wenn ich über Theater redete. Ich war im Frühjahr 1932 dorthin gelangt, wo ich seither bin: zum Theater.“[29]
Der renommierte Komponist und Musikschriftsteller Joseph Marx vermerkte über die Aufführung: „Das Bühnenbild entspricht dem Werk: primitive Stilisierung des Einfalls. Mit viel Geschick weiß Lizzi Pisk aus ein paar Vorhängen, Kisten und Stangen allerhand Wirkungen zu holen.“[30] „Das interessante Blatt“ resümierte in ähnlichem Sinn: „Gut in ihrer Primitivität und Wirkung die Bühnenbilder Lizzy[!] Pisks.“[31]
Danach beschäftigte sich Pisk wieder verstärkt mit Kostümentwürfen: So etwa trug die Wiener Tänzerin Lisl Rinaldini bei ihrem erfolgreichen Auftritt in der Wiener Urania auch Kostüme von Lizzi Pisk.[32] Große internationale Reputation erlangte das Paris-Gastspiel der Truppe von Gertrud Bodenwieser beim damals neu ins Leben gerufenen „Concours de Choréographie en Souvenir de Jean Borlin“[33]. Den ersten Preis gewann Kurt Jooss mit seiner Truppe der Essener Folkwangschule, den zweiten Platz errang die österreichische Choreografin Rosalia Chladek mit der Hellerau-Laxenburg-Schule. Die von Pisk mit Kostümen ausgestattete Produktion[34] von Bodenwieser wurde mit einer Bronzemedaille ausgezeichnet.[35] Die in der Literatur geäußerte Vermutung, dass Lizzi Pisk persönlich in Paris anwesend gewesen sein könnte[36], ist aufgrund einer gezeichneten Reportage von ihr in der „Bühne“ als sicher anzunehmen.[37] In Zusammenhang mit dem Tanz-Wettbewerb fand in Paris in der Galerie la Renaissance eine Ausstellung von Kostümentwürfen und Bühnenmodellen statt, in der auch „dessins de danse de Lizzi Pisk“ präsentiert wurden.[38]
Im Herbst 1932 folgte dann die erste Einzelausstellung der Künstlerin in Wien. Sie fand in der prominenten Wiener Buchhandlung Perles[39] statt. Ein erst kürzlich in einem Wiener Antiquariat erworbener Brief dokumentiert die Bedingungen, zu denen Lizzi Pisk ausstellen konnte und beleuchtet darüber hinaus die Arbeitssituation junger österreichischer Künstlerinnen und Künstler in jenen Jahren. So schrieb Pisk am 5. September 1932 an den Buchhändler Moritz Perles: „In Beantwortung Ihres Schreibens vom 2. cts.[40] bestätige ich Ihnen, dass ich Mitte Oktober a. c.[41] eine Ausstellung meiner Zeichnungen (Kostümbilder und Karikaturen) in Ihrem Ausstellungsraum eröffnen werde.
Die Einladungen, sowie deren Versendung gehen zu meinen Kosten, während Sie mir in liebenswürdiger Weise den Ausstellungsraum kostenlos beistellen.
Von den verkauften Zeichnungen fällt die Hälfte der Einnahmen Ihnen zu. Den Verkaufspreis der Zeichnungen, sowie die von mir angefertigten Schaufensterplakate werde ich noch rechtzeitig mit Ihnen mündlich besprechen.“ Pisk informierte den Buchhändler auch davon, dass sie ihre Arbeiten noch nicht von den Pariser Ausstellern zurück bekommen hatte: „Dem Pariser Tanzarchive habe ich bis 10. ds. Mts. den letzten Termin gestellt.“.[42]
Es ist anzunehmen, dass der sehr moderne, an den Bauhaus-Stil erinnernde Briefkopf des Schreibens von Pisk selbst entworfen wurde. Der Text „Atelier für Kostüm und Plakatentwürfe“ beweist auch, dass die junge Künstlerin mehr im Bereich der Gebrauchsgrafik machen wollte. Allerdings konnten bisher keine von ihr entworfenen Plakate aus dieser Zeit gefunden werden. Doch dass es Pisk ernst war mit der Absicht, die kommerzielle Grafik als Beruf auszuüben, beweist die Tatsache, dass sie 1932 dem „Bund österreichischer Gebrauchsgraphiker“ beitrat. Sie gehörte damit in Österreich zu den ersten Frauen in dieser Interessensvertretung.[43] Die entsprechenden Aufträge blieben bei Pisk aber offensichtlich aus, obwohl die Qualität ihrer zeichnerischen Arbeiten von der Fachwelt gelobt wurde: Neben dem zu Beginn zitierten Kunstexperten Wolfgang Born war auch der Kunstkritiker des „Wiener Tag“ vom eigenständigen Stil der jungen Künstlerin fasziniert: „Ihr Spezialfach ist die künstlerische, um nicht zu sagen kinetische Karikatur. Mit besonderer Liebe hält sie Tänzerinnen und Schauspieler fest. In einer Art von futuristischem Expressionismus. Oft genügen ihr ein paar charakteristische Linien oder spärliche Schattenstreifen, um das Wesentliche vom Geschauten wiederzugeben; Unwichtiges fällt bei ihr stets unter den Tisch. Vieles erscheint, als wäre es gezeichnete Drahtplastik. Jedenfalls, Lizzi Pisk hat Theaterblut, auch ihre aparten Marionetten verraten es. Ihre Mahagonny-Dekorationen haben es übrigens bereits verraten.“[44]
Und in einem kurzen Bericht in der Tageszeitung „Die Stunde“ heißt es über Lizzi Pisk: „Es ist eine erstaunlich vielseitige Begabung, die man hier näher kennen lernt: neben szenischen Entwürfen und Figuren finden sich besonders lebendige Skizzen von bekannten Bühnenkünstlern und schließlich einige sehr wirkungsvolle Plakatentwürfe. Besonderes Interesse dürfen auch die plastisch ausgeführten Bühnenmodelle zu der mit allereinfachsten Mitteln hergestellten und doch phantasievollen Inszenierung der Brecht-Weillschen Oper ‚Mahagonny‘ beanspruchen.“[45]
In der Ausstellung in der Buchhandlung Perles wurden offenbar auch Karikaturen gezeigt, die Pisk bereits in Zeitungen und Zeitschriften publiziert hatte. Ab September 1931 brachte sie fallweise Karikaturen in der Illustrierten „Die Bühne“ unter.[46] Ab Herbst 1932 war die Tageszeitung „Der Wiener Tag“ als Auftraggeber dazugekommen, für den sie regelmäßig Karikaturen von bekannten Protagonistinnen und Protagonisten des Wiener Musik- und Theaterlebens in ihrem unverkennbaren, ganz eigenen, grotesken Stil lieferte.[47] Auch die mondäne Illustrierte „Moderne Welt“ brachte im Oktoberheft 1932 Karikaturen von Pisk zur Wiener Kulturszene.[48]
Immer wieder erhielt Pisk Lob für die von ihr entworfenen Kostüme für verschiedene Theaterprojekte. Anfang des Jahres 1933 veranstaltete die Künstlervereinigung „Hagenbund“ eine repräsentative Grafikausstellung zum Thema „Der Tanz“. Im Begleitprogramm zur Schau trat auch Gertrud Bodenwieser auf, wobei die Kostüme, die Lizzi Pisk für sie entworfen hatte, speziell gelobt wurden.[49] Und Ende des Jahres waren es „prachtvolle Toiletten und Kostüme“, die sie gemeinsam mit Herbert Ploberger für die Revue „Alles nach Maß“ des populären Kabarettisten Karl Farkas beigesteuert hatte und die von der Kritik besonders hervorgehoben wurden.[50]
1933 war das Jahr, in dem Pisk erstmals nach England kam und das sie in der Folge regelmäßig besuchte. Hier war es zunächst ihre grafische Begabung, die ihr einen fulminanten Einstieg ermöglichte: Von Februar bis April 1934 erschienen mehr als zwanzig ihrer Karikaturen vornehmlich von Filmstars in der Tageszeitung „Evening Standard“.[51] Das Spektrum reichte dabei von Mae West über Greta Garbo bis zu den Marx Brothers. Im Mai 1934 wechselte sie als Zeichnerin zum „News Chronicle“, für den sie allerdings nur einige wenige Arbeiten lieferte.[52] Außerdem waren von ihr gezeichnete Illustrationen auch im traditionellen britischen Magazin „Tatler“ zu finden.[53]
Aufgrund ihres internationalen Engagements konnte Pisk ihre pädagogische Arbeit in Wien nicht weiterführen. Anfang 1934 wurde im „Verordnungsblatt des Stadtschulrates für Wien“ verlautbart, dass die „Privatlehranstalt für Gymnastik und künstlerischen Tanz, ferner für ornamentales und figurales Zeichnen“ von „Alice Pisk“ „derzeit nicht betrieben“ werde.[54] Dennoch wurde sie im Wiener Adressbuch „Lehmann“ bis 1936 weiterhin als „Gymnastiklehrerin“ geführt, 1937 und 1938 scheint sie dort dann mit der Berufsbezeichnung „Zeichner[in]“ auf.[55]
Neben der Grafik waren es weiterhin die Kostümentwürfe, die einen wesentlichen Bestandteil von Pisks Arbeit ausmachten. Anlässlich eines Auftritts der „Tanzgruppe Gertrud Bodenwieser“ im Großen Musiksaal in Klagenfurt am 11. Januar 1934 hieß es etwa in der Rezension: „Die wirkungsvoll erdachte kostümliche Ausstattung nach Entwürfen von Lizzi Pisk in ihrer charakteristischen Zeichnung und Farbenwirkung trug auch diesmal wieder für das Auge einen nicht unwesentlichen Teil zu den schönen Eindrücken der Darbietungen bei […]“[56] Und im Juli 1934 schrieb das „Neue Wiener Journal“ anlässlich einer Freilichtaufführung Bodenwiesers im Wiener Burggarten: „Ein Speziallob verdient die Kostümzeichnerin Lizzi Pisk für die geschmackvollen und wirksamen Tanzkleider.“[57]
Pisk pendelte offenbar in jenen Jahren zwischen England und Österreich hin und her. Denn im Herbst 1934 war sie in London an einem imponierenden Großprojekt als Kostümbildnerin beteiligt. Im Londoner „Crystal Palace“ fanden von 15. bis 20. Oktober sieben Aufführungen eines historischen Festspiels zur Geschichte der britischen Arbeiterbewegung statt. Die vom „Central Women’s Organisation Committee of the London Trades Council” organisierte Veranstaltungsserie verband Musik, Tanz und Schauspiel. 1200 Darstellerinnen und Darsteller sowie 200 Tänzerinnen und Tänzer waren daran beteiligt. Das Drehbuch stammte von Matthew Anderson, die Musik von Alan Bush. Und für die Gestaltung der Kostüme war Lizzi Pisk in Zusammenarbeit mit der „LCC Central School of Arts and Crafts“ zuständig.[58]
1937 entschloss sich Pisk aufgrund der immer repressiver werdenden Bedingungen vor allem in Deutschland aber auch in Österreich, dauerhaft nach England zu übersiedeln.[59] 1947 erhielt sie die britische Staatsbürgerschaft.[60] Bald hatten sich für sie auch in London interessante Arbeitsaufgaben eröffnet, wie man in einer von ihr autorisierten Kurzbiografie nachlesen kann: „Auch hier beschäftigte sie sich mit Bühnen- und Kostümentwürfen, Choreographie, unterrichtete an Theater- und Kunstschulen, stellte aber auch Zeichnungen aus.“[61]
Der Kritiker H. K. Thomas entbot Pisk im angesehenen „Penrose Annual“ einen besonders freundlichen Willkommensgruß. Er widmete ihr einen eigenen Artikel, der mit den Worten begann: „Lizzi Pisk comes from Vienna, and her work has all the liveliness and impudent gaiety typical of that carefree city. She has long been a famous figure in Vienna, and her caricatures, that appeared regularly in the morning paper after every important first night or sporting event, were a breakfast-time treat for all intellectual Vienna.
Her art is pre-eminently the kind that conceals art, and her best effects are achieved by an economy of line: by what she leaves out rather than what she puts in.”[62] Auch wenn der Autor wohl eine zu optimistische Sicht auf das fröhliche Leben Wiens in jenen Jahren hatte, war die Analyse der Zeichenkunst von Pisk auf alle Fälle zutreffend.
Nicht nur als Grafikerin erlangte Pisk in London bemerkenswerte Anerkennung, sondern sie erhielt auch sehr bald einen Lehrauftrag an der berühmten „Royal Academy of Dramatic Art“ als „teacher of Mime“.[63] Es gelang ihr in ihrer weiteren Lehrtätigkeit ihre beiden Hauptbegabungen, jene für bildende Kunst und jene für das Theater, in Einklang zu bringen. Die vielfältigen Funktionen, die sie in Großbritannien ausübte, fasste sie einmal so zusammen: „Combined visual expressions in drawing, design, and choreographical work; exhibited pen- and brush-drawings in the Redfern Gallery[64], designed Stage-sets, choreographed for the Royal Shakespeare Company, the Old Vic Theatre, the National Theatre, the Royal Exchange Company (Manchester), and for T.V. and Film-productions, taught at the Royal Academy of Dramatic Art, the Old Vic School (London), the Bath Academy of Art, and the Central School of Speech and Drama.”[65]
Ein Highlight ihrer choreografischen Arbeit war sicherlich ihre Kooperation mit Vanessa Redgrave für den Film „Isadora“, in der die erfolgreiche Schauspielerin unter der Regie von Karel Reisz die Tänzerin Isadora Duncan spielte (1968).
Ab Sommer 1970 lebte Litz Pisk – wie sie es selbst formulierte – „semi-retired“ in einem Cottage im Städtchen Hayle in Cornwall und gab als ihre Hauptbeschäftigung „Zeichnen“ an.[66] Fallweise arbeitete sie jedoch weiterhin für das Theater, so etwa war sie für einige Produktionen der „Company 69“ im Manchester University Theatre engagiert.[67]
In der ländlichen Ruhe von Cornwall nahm sie sich auch die Zeit, die Erkenntnisse aus ihrer Lehrtätigkeit in dem Buch „The Actor and his Body“ zusammenzufassen. In seinem Vorwort zu dem 1975 erstmals publizierten Werk schrieb der britische Regisseur Michael Elliot: „Before she came to England she was a designer as well. Her distinguished past abroad and her work with the Old Vic School, and latterly the Central School of Speech and Drama, are in many ways even more important as an influence on the theatre than the productions in which she was directly involved. She is a great teacher and has changed many who will change the theatre.”[68] Das Buch ist mittlerweile zu einem Longseller avanciert, der derzeit in der vierten Auflage vorliegt.
In ihren letzten Lebensjahrzehnten kehrte Pisk mit großem Engagement zu ihren künstlerischen Anfängen, nämlich dem Zeichnen, zurück. 1980 und 1982 hatte sie Einzelausstellungen im „New Arts Centre“ in der Londoner Sloane Street[69] und 1986 eine Präsentation in der „Newlyn Art Gallery“[70] in Penzance. Im Dezember 1983 schrieb sie an Hans Weigel, dass sie nach fünf Wochen Arbeit an einer Theaterproduktion in Manchester, zu der sie ihr Freund Michael Elliot überredet hatte, nun in ihr Haus zurückgekehrt und froh sei, „wieder an meinem Zeichentisch zu sitzen.“[71]
Am 6. Januar 1997 verstarb Litz Pisk in St Ives in Cornwall. In seinem Nachruf in der britischen Tageszeitung „Independent“ konstatierte Pisks früherer Student und späterer Kollege George Hall: „None who worked with the movement teacher Litz Pisk, either as actor or student, will ever forget the sheer theatrical impact of her own movement, at once dynamic and sculptural, intense and totally possessed.”[72]
Im Jahr 2019 wurde in der Londoner „Royal Central School of Speech and Drama“ ein Studio nach Litz Pisk – in Gedenken an ihre herausragenden Leistungen als Lehrerin an diesem Institut – benannt. Pisks Verdienste im Bereich des Tanzes und des Theaters wurden und werden – zumindest in Großbritannien – entsprechend gewürdigt. Nun aber gilt es, sie auch als hervorragende und eigenständige Grafikerin wiederzuentdecken.
Erstveröffentlichung: 11.2.2023
[1] Born, Wolfgang: Kunstausstellungen und Vorträge. Lizzi Pisk im graphischen Kabinett der Buchhandlung Perles, in: Neues Wiener Journal, 28.10.1932, S.7.
[2] Die in der Literatur immer wieder auftauchende Behauptung, dass Pisks Vorname eigentlich Alitzia oder Alizia gewesen sei, ist nicht zutreffend, siehe: Geburtsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Rz. 2043/1909, 256.
[3] Freundliche Auskunft von DSA Irma Wulz, BA der Israelitischen Kultusgemeinde.
[4] Litz Pisk, Brief vom 17.11.1966 (Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek).
[5] Höfler, Ida Olga: Die Jüdischen Gemeinden im Weinviertel und ihre rituellen Einrichtungen 1848–1938/45: Der Politische Bezirk Gänserndorf. 1: Rituelle Einrichtungen, Begräbnisstätten, Strasshof 2015, S. 850f.
[6] Neuigkeits-Welt-Blatt, 27.6.1926, S. 18.
[7] Universität für angewandte Kunst Wien, Online Schüler*innen-Datenbank.
[8] Werkner, Patrick: Der Wiener Kinetisimus – ein Futurismo Viennese? In: Wiener Kinetisimus. Eine bewegte Moderne, Wien 2011, S. 63f.
[9] Protokoll der Professorensitzung vom 16.1.1924, zitiert nach: Vogelsberger, Vera: Sequenzen aus Kunsterziehung und Geisteswissenschaften, in: Kunst: Anspruch und Gegenstand. Von der Kunstgewerbeschule zur Hochschule für angewandte Kunst in Wien 1918–1991, Wien 1991, S. 287.
[10] Fußnote 7.
[11] Litz Pisk Movement Notes, (Royal Central School of Speech and Drama [=RCSSD], Archive), zitiert nach: Tashkiran, Ayse: Introduction, in: Pisk, Litz: The Actor and his Body, 4. Aufl., London 2018, S. VIII.
[12] Fußnote 7.
[13] Freundliche Auskunft von Christina Kramer vom Archiv des Max Reinhardt Seminars.
[14] Litz Pisk, Biographical Note, RCSSD, Archive.
[15] Die Bühne, 18.11.1926, S. 3.
[16] Das interessante Blatt, 17.11.1927, S. 21.
[17] Dass Pisk Schülerin von Isodora Duncans Schwester Elizabeth gewesen sei, wie in der Literatur immer wieder behauptet wird, lässt sich aufgrund des derzeitigen Quellenstands nicht verifizieren. Irgendein Hinweis darauf ist auch in einem von Pisk verfassten Lebenslauf nicht zu finden (siehe Fußnote 14). In einem Brief an Patsy Child legte Hilde Holger Wert auf die Feststellung, dass Pisk ihre Schülerin gewesen sei: „There was never a Duncan-School in Vienna and if Litz would have gone to Elizabeth Duncan to Salzburg, she would have mentioned [it] to me. She was aged 19 years when she studied with me and I think I have the right to say that I was her teacher.“ (Brief von Hilde Holger an Patsy Child, 16.11.1997, RCSSD, Archive).
[18] Der Tag, 13.9.1928, S. 6.
[19] Das Kleine Blatt, 17.5.1929, S. 12.
[20] Die Stunde, 29.9.1929, S. 7.
[21] Verordnungsblatt des Stadtschulrates für Wien, 1.12.1929, S. 218.
[22] Der Wiener Tag, 1.5.1929, S. 8.
[23] Der Morgen, 3.2.1930, S. 4.
[24] Reichspost, 30.3.1930, S. 30; Neues Wiener Journal, 19.3.1931, S. 11.
[25] Der Tanz. Monatsschrift für Tanzkultur, 1930/8.
[26] Die Bühne, 1931/9(1), S. 8.
[27] Fälschlicherweise wird in der Literatur bisweilen behauptet, dass Pisk 1932 in Wien das Bühnenbild für die Uraufführung dieser Oper geschaffen habe. Die Uraufführung des Werks hatte jedoch bekanntlicherweise bereits 1930 in Leipzig stattgefunden und war nicht von Pisk ausgestattet worden.
[28] Straub, Wolfgang: Die Netzwerke des Hans Weigel, Wien 2016, S. 38.
[29] Weigel, Hans: In die weite Welt hinein. Erinnerungen eines kritischen Patrioten. Hrsg. von Elke Vujica, St. Pölten 2008, S. 141f.
[30] Neues Wiener Journal, 27.4.1932, S. 11.
[31] Das interessante Blatt, 5.5.1932, S. 20.
[32] Reichspost, 7.6.1932, S. 9.
[33] Archives internationales de la danse, 1932/0, S. 4.
[34] Ebenda, S. 8; Im Nachlass von Gertrud Bodenwieser in der National Library of Australia haben sich einige frühe Kostümentwürfe von Lizzi Pisk in Kopien erhalten (Papers of Gertrud Bodenwieser, 1919-2020, Class MS 9263, Series 3. Costume designs, Item 2).
[35] Till, Charlotte: Oesterreich siegt im Pariser Tanzwettbewerb, in: Neues Wiener Journal, 9.7.1932, S. 5; Der Wiener Tag, 14.7.1932, S. 9.
[36] Malet, Marian: Litz Pisk, Dance and Theatre, in: Brinson, Charmian – Richard Dove (Ed.): German-Speaking Exiles in the Performing Arts in Britain after 1933, Amsterdam 2013, S. 93; Tashkiran, Ayse, (Fußnote 11) S. VIII.
[37] Pisk, Lizzi: Tanzolympiade in Paris, in: Die Bühne, 1932/8(1), S. 34.
[38] Archives internationales de la danse, 13.1.1933, S. 32.
[39] Hall, Murray G.: Julius Klinger und die Verlagsbuchhandlung Moritz Perles, in: Denscher, Bernhard (Hrsg.): Werbung, Kunst und Medien in Wien (1888–1938), Wolkersdorf 2021, S. 142ff.
[40] currentis, des laufenden Monats.
[41] anno currente, dieses Jahres.
[42] Lizzi Pisk, Brief an Moritz Perles vom 5.9.1932 (Archiv des Autors).
[43] Maryška, Christian: Kunst der Reklame. Der Bund Österreichischer Gebrauchsgraphiker von den Anfängen bis zur Wiedergründung 1926–1946, Salzburg 2005 (=Design in Österreich, 1. Bd), S. 139; Kopie der Mitgliedskarte (No. 119) des „Bundes Österreichischer Gebrauchsgraphiker“, Archiv des Österreichischen Theatermuseums.
[44] Der Wiener Tag, 22.11.1932, S. 7.
[45] Die Stunde, 23.10.1932, S. 5.
[46] Beginnend mit: Die Bühne 1931/9(1), S. 8.
[47] Beginnend mit: Der Wiener Tag, 3.9.1932, S. 8.
[48] Moderne Welt 1932/10: Dirigent Robert Heger (S. 11), Schauspieler Hans Moser (S. 16) und Schauspielerin Frieda Richard (S. 17).
[49] Der Wiener Tag, 23.2.1933, S. 8.
[50] Neues Wiener Journal, 29.12.1933, S. 9.
[51] Beginnend mit: Evening Standard, 5.2.1934, S. 8.
[52] Beginnend mit: News Chronicle, 5.5.1934, S.11.
[53] Litz Pisk, Eigenhändiger Lebenslauf (RCSSD, Archive).
[54] Verordnungsblatt des Stadtschulrates für Wien, 1.2.1934, S. 9.
[55] Wiener Adreßbuch, Lehmanns Wohnungsanzeiger https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/titleinfo/2316398
[56] Freie Stimmen, 13. 1. 1934, S. 3.
[57] Neues Wiener Journal, 14. 7. 1934, S. 11.
[58] The Redress of the Past. Historical Pageants in Britain https://historicalpageants.ac.uk/pageants/1152/
[59] Laut den Meldeunterlagen im Wiener Stadt- und Landesarchiv hat sich Pisk im November 1937 von ihrer Adresse Wien 20., Wasnergasse 31/12 abgemeldet.
[60] The London Gazette, 24.6.1947, S. 2878.
[61] Baum, Elfriede: Litz Pisk, in: Die uns verließen. Österreichische Maler und Bildhauer der Emigration und Verfolgung, Wien 1980, S. 166; Litz Pisk, Biographical Note (RCSSD, Archive).
[62] Thomas, H. K.: Lizzi Pisk, in: The Penrose Annual. A review of the Graphic Arts, 1937, S. 76f.
[63] Bestätigung „To whom it may concern“ des Direktors Kenneth R. Barnes, Oktober 1939 (RCSSD, Archive).
[64] Ceri Richards, Paul Gauguin, Litz Pisk. Redfern Gallery, London, September 28th to October 21st 1944 [Catalogue].
[65] Litz Pisk, Biographical Note (RCSSD, Archive).
[66] Baum (Fußnote 61).
[67] Litz Pisk, Brief an Hans Weigel, 10.8.1970 (Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek).
[68] Elliot, Michael: Introduction, in: Pisk, Litz: The Actor and his Body. Introduction by Ayse Tashkiran. 4th Edition, London 2018., S. XXXIII.
[69] Einladungskarten (Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek).
[70] Litz Pisk. Drawings 1942–1985, [Broschüre zur Ausstellung] Penzance 1986.
[71] Litz Pisk, Brief an Hans Weigel, 30.12.1983 (Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek).
[72] Hall, George: Obituary: Litz Pisk, in: Independent, 29.3.1997, https://www.independent.co.uk/news/people/obituary-litz-pisk-1275650.html