„Eine Eisenbahngesellschaft muß eine umfangreiche Werbung entfalten und muß sich deshalb sorgfältig überlegen, mit welchen Mitteln die gewünschte Aufmerksamkeit des Publikums am besten erreicht wird“, stellte Cecil Dandridge, der „advertising manager“ der „London and North Eastern Railway of England and Scotland“ (LNER), in einem Artikel über „Englische Bildplakate“ fest.[1] Die Bahngesellschaft, die er repräsentierte, war 1923 durch den Railway Act von 1921 als eine der vier großen Companies in Großbritannien entstanden und existierte von Anfang 1923 bis zur Verstaatlichung der Bahnen Ende 1947.
Der erste Reklamechef der Linie, William Teasdale, und dessen Nachfolger, Cecil Dandridge, entwickelten in der Zwischenkriegszeit ein hochprofessionelles Werbekonzept, das bald zum Vorbild für die internationale Tourismusbranche wurde. Teasdale setzte ab 1923 mit dem Engagement avancierter Grafiker auf eine Modernisierung der Verkehrswerbung und ergriff dafür in der Folge eine ungewöhnliche Maßnahme. Im Dezember 1926 schloss er mit den renommierten britischen Designern Austin Cooper, Frank Mason, Frank Newbould, Tom Purvis und Fred Taylor Verträge, die besagten, dass die sogenannten „Big Five“ gegen ein entsprechendes Grundhonorar für keine andere Eisenbahnlinie als für LNER arbeiten durften.[2]
Cecil Dandridge konnte ab 1928 das Konzept seines Vorgängers, der zum „Assistant General Manager“ des Unternehmen avanciert war, erfolgreich weiterführen. Dandridge fokussierte die Werbelinie noch stärker auf eine klar akzentuierte Optik mit einem hohen Wiedererkennungswert. Er bestimmte ein durchgängig zu verwendendes Logo und er wählte die 1929 gerade erst kreierte „Gill Sans“ zur Hauptschrift von LNER.[3] Damit verschaffte er dieser Schrift einen fulminanten Start, der zu deren weiten Verbreitung beitrug, die in der Folge von den British Railways bis zu den Straßenwegweisern der DDR reichte.
Ein Teil der breit angelegten Plakatkampagnen der „London and North Eastern Railway“ war der Bahn- und Fährverbindung nach Europa „via Harwich“ gewidmet. Der Hafen in der ostenglischen Stadt gehörte zur LNER und sollte für Reisen nach Zentraleuropa eine attraktive Alternative zur Verbindung Dover–Calais bieten. So warb die Gesellschaft mit eigenen Plakaten für Reisen nach Prag, München, Salzburg, Innsbruck, Budapest – und eben auch für Reisen nach Wien.
Die Gestaltung der Affiche „Vienna via Harwich“ übernahm der Grafiker Frank Newbould (1887–1951) aus dem Team der „Big Five“. Ihm gelang damit eines der wohl attraktivsten Wien-Plakate, die je gemacht wurden. Gleichwohl ist die Arbeit in Österreich bis dato kaum rezipiert worden. Newbould, der im Zweiten Weltkrieg auch im Bereich der Kriegspropaganda tätig war, stand in der Tradition der britischen „Beggarstaff Brothers“, die zu den wesentlichen Wegbereitern des modernen Grafikdesigns gehören.[4] Im geschickten Kombinieren von intensiv gehaltenen Farbflächen erzielten die Grafiker einen optimalen plakativen Effekt. Newbould verfolgte ein ähnliches grafisches Konzept, wobei er durch die Abstufung der Farbintensitäten eine für sein Werk typische Raffinesse entwickelte.
Was das Wien-Plakat neben der koloristischen Qualität besonders macht, ist die Auswahl des Sujets. Es präsentiert nicht – wie so viele andere Tourismusreklamen – in erster Linie eine Sehenswürdigkeit der Stadt, sondern war vielmehr der Vermittlung eines eleganten Lebensgefühls gewidmet. Im Vordergrund sieht man, vor einer Plakatsäule, einen modisch gekleideten älteren Mann im Gespräch mit einer schicken, jungen Frau. Rechts davon ist mit der Dame mit Windhund ein bekannter, immer wiederkehrender Art-deco-Topos abgebildet. Erst im Hintergrund, teils verdeckt von Straßenbahn und Autoverkehr, sind Teile der Wiener Staatsoper zu erkennen. Was das Plakat noch etwas mehr „sophisticated“ macht, ist die Hommage an den Wiener Grafiker Julius Klinger und dessen Kreis. Denn auf der Litfaßsäule sind, leicht verfremdet, Klingers Plakat für Olleschau-Zigarettenpapier sowie eine Reklame für Metallum-Glühbirnen von Wilhelm Willrab zu erkennen. Beide Arbeiten sind in dem von Julius Klinger herausgegebenen Buch „Poster Art in Vienna“ abgebildet.[5] Es scheint, dass diese reich illustrierte Publikation die entsprechende Inspiration für Frank Newbould gewesen war. In englischen Fachkreisen hatte Klinger überdies durch seine beiden Plakate für die Londoner Underground aus dem Jahr 1929 zusätzliche Bekanntheit erlangt.[6]
Diesen Artikel zitieren:
Bernhard Denscher, Vienna via Harwich, in: Austrian Posters, 3.8.2024,
https://www.austrianposters.at/2024/08/03/vienna-via-harwich/ (Stand: TT.MM.JJJJ).
[1] Dandridge, C[ecil]: Englische Bildplakate, in: Knapp, Alfred [Hrsg.]: Reklame Propaganda Werbung. Ihre Weltorganisation, Berlin 1929, S. 118.
[2] Cole, Beverley: It’s Quicker By Rail. LNER Publicity and Posters, 1923 to 1947, Harrow 2006, S. 2.
[3] Frost, Lorna: Railway Posters, Oxford 2012, S. 27.
[4] Rennie, Paul: Railway Safety Posters • Frank Newbould • British Rail • 1947, in: BAGDContext CSM, 29.4.2017,
[5] Poster Art in Vienna, Chicago 1923.
[6] Denscher, Bernhard: Gebrauchsgrafik aus Österreich. 51 Lebensläufe, Wolkersdorf 2022, S. 54.