Was wurde aus Leontine Maneles?

Leontine Maneles, Ausschnitt aus einem Holschnitt, 1904

Eine weitere offene Frage zur österreichischen Kunstgeschichte kann hiermit beantwortet werden: Was wurde aus Leontine Maneles?

Zwar ist das erhaltene Oeuvre von Maneles relativ klein, doch ihre Arbeiten zählen zu den Spitzenwerken der Wiener Kunst um 1900. Ihr Talent war so herausragend, dass bereits während ihrer Studienzeit Holzschnitte von ihr in „Ver sacrum“ und in der „Fläche“ publiziert wurden. Dennoch blieb die Künstlerin im Boom der Wien-um-1900-Ausstellungen in den 1980er Jahren unbeachtet.

Friedrich C. Heller hingegen hat sie 2008 in sein Kompendium zur Geschichte der Wiener Kinderbücher aufgenommen und eine Reihe von biografischen Daten zu Leontine Maneles recherchieren können, so etwa Geburtsjahr und Geburtsort, ihre Ausbildung sowie ihre publizierten Arbeiten und Teile ihres familiären Umfelds. Allerdings konnte Heller nichts über das weitere Schicksal der Künstlerin nach 1938 in Erfahrung bringen.[1]

Die von Tobias G. Natter kreierten Ausstellungen über den Farbholzschnitt in Wien um 1900 in der „Schirn Kunsthalle Frankfurt“ (2016) und in der „Albertina Wien“ (2017) brachte mit der Präsentation von fünf Arbeiten von Maneles eine Wiederentdeckung der Künstlerin in einem sehr prominenten Kontext. Im Biografienteil des dazugehörigen Kataloges finden sich zumindest die von Heller erarbeiteten Fakten, damit aber auch hier weder ein genaues Geburtsdatum noch das Todesdatum und der Todesort.[2] Im Katalog zur repräsentativen Ausstellung „Stadt der Frauen“, die 2019 im „Belvedere Wien“ stattfand und in der zwei Holzschnitte von Leontine Maneles gezeigt wurden, begnügte man sich überhaupt nur mit zwei Fragezeichen betreffend die Lebensdaten der Grafikerin.[3] Ähnlich verhält es sich in dem großen Online-Lexikon „Artists of the World“, das den Anspruch eines umfassenden Standardwerkes hat, in dem jedoch zu Maneles bloß eine „erste Erwähnung (um) 1903/1904“ sowie die Tatsache der Publikationen in „Ver sacrum“ und der „Fläche“ angeführt werden.[4] Auch der 2023 in den USA erschienene Reprint von „Die Fläche“ enthält zwar Abbildungen von Maneles‘ Werken, aber keine weiteren biografischen Informationen.[5]

Vieles wird bezüglich des Lebenslaufes der Künstlerin weiterhin offen bleiben, aber zumindest ihre gesicherten Lebensdaten können hier erstmals dargelegt werden: Leontine Dorothea Maneles wurde am 10. September[6] 1877 in Lemberg/Lwiw[7] im damaligen Galizien geboren. Ihre Eltern waren Heinrich Maneles (1848–1925) und Fanny Maneles (1855–1943), geborene Witz.[8] Der Vater ihrer Mutter, Dr. Hermann Witz, war Primararzt und Gemeinderat in Lemberg, kaiserlicher Rat sowie Landwehr-Regimentsarzt.[9]

Wann Leontine nach Wien gekommen ist, lässt sich nicht nachvollziehen. Es war höchstwahrscheinlich bald nach ihrer Geburt, denn ihr Vater, später Direktor der Phönix-Versicherungsgesellschaft, ist bereits 1874 als Bankbeamter in Wien nachweisbar[10]. Von 1897 bis 1904 besuchte Leontine Maneles in Wien in der „Kunstschule für Frauen und Mädchen“[11] die Klasse von Adolf Böhm, in der Adele Bettelheim, Minka Podhajska, Henriette von Pokorny und Fanny Zakucka zu ihren Mitschülerinnen gehörten.[12]

Wien–Kaisermühlen, Ver sacrum, 1903

Bereits in jenen Jahren erreichte Leontine Maneles die Höhepunkte ihrer künstlerischen Karriere: Es begann zu Pfingsten 1900 mit einer Ausstellung von Schülerinnenarbeiten der „Kunstschule“. Die Schau war laut „Neue Freie Presse“ sowohl ein großer Publikumserfolg als auch ein beachtliches gesellschaftliches Ereignis. Die Präsentation war insofern sehr positiv für Leontine Maneles, weil sie als eine der wenigen Ausstellerinnen nicht nur namentlich in der „Presse“ erwähnt wurde, sondern auch weil ihre Arbeit „decorativer Frauenkopf“ verkauft wurde.[13] Ein weiterer Erfolg war im September 1902 die Veröffentlichung einer schablonisierten Grafik in der Zeitschrift „Ver sacrum“.[14] 1903 folgte dann in „Ver sacrum“ die Abbildung der drei Holzschnitte „Laufmädel“, „Kaisermühlen“ und „Stickerinnen“ (Fragment).[15]

Ver sacrum, 1903

1904 war Leontine Maneles dann in der „Fläche“ mit fünf Holschnitten prominent vertreten, wobei es sich um zwei Exlibris und drei Landschaftsdarstellungen handelt.[16] „Die Fläche“ war eine von Felician von Myrbach, dem Direktor der Kunstgewerbeschule, gemeinsam mit den Professoren Josef Hoffmann, Koloman Moser und Alfred Roller herausgegebene Mustermappe moderner angewandter Kunst, die von 1902 bis 1904 erschien.[17] Das Lehrerkollegium präsentierte darin vornehmlich beispielgebende Arbeitsproben der Schülerinnen und Schüler der Kunstgewerbeschule. Ausnahmen bildeten einige Arbeiten von Mitgliedern der Secession sowie das Heft Nummer 7 aus dem Jahr 1903 und das Heft Nummer 11 aus dem Jahr 1904, in denen auch Arbeiten von Schülerinnen der „Kunstschule für Frauen und Mädchen“ abgebildet waren – im Heft Nummer 11 auch Arbeiten von Leontine Maneles.

Die Fläche, 1904

Tobias G. Natter betont in seinem Standardwerk zum „Farbholzschnitt in Wien um 1900“ die Qualität der entsprechenden Arbeiten in der „Fläche“. Unter anderem heißt es da: „…Leontine Maneles (1877–?), eine Künstlerin, von der wir heute sonst so gut wie keine Originalwerke kennen. Allein die in ‚Die Fläche‘ reproduzierten Farbholzschnitt-Landschaften zeugen von ihrem herausragenden Talent.“[18]

Die Fläche, 1904

Die Fläche, 1904

Im Jahr 1904 war Maneles auch in der satirischen illustrierten Zeitschrift „Der liebe Augustin“ mit Grafiken vertreten. Es war – im Heft Nummer 10, das Mitte Juli herauskam – ein blau-gelber Farbholzschnitt, sehr ähnlich der zuvor in der „Fläche“ publizierten Grafik, sowie zwei bis dahin noch unveröffentlichte Illustrationen.[19]

„Der liebe Augustin“, der dreimal im Monat erschien, hielt sich nur 24 Ausgaben lang, hatte aber eine bemerkenswerte ästhetische Qualität. Mit Beiträgern wie Lyonel Feininger, Josef Hoffmann, Julius Klinger, Alfred Kubin, Bertold Löffler, Kolo Moser, Emil Orlik oder Heinrich Zille befand sich Leontine Maneles da in einer sehr prominenten Umgebung. Ende August 1904 (Heft 14) steuerte Maneles eine Illustration zum Gedicht „Rokoko“ von Richard Schaukal bei,[20] im Heft 18 ein kleines, durch den mangelhaften Druck etwas verschwommenes Landschaftsbild.[21]

Der lieber Augustin, 1904

Im 23. und damit vorletzten Heft des „Lieben Augustin“ gab es im November 1904 noch einen Höhepunkt der Wiener Holzschnittkunst. Neben Arbeiten von Victor Schufinsky und Fanny Zakucka enthält diese Ausgabe zwei Werke von Leontine Maneles. Eines ist eine Art Illustration zu einem Herbstgedicht von Gisa Tacchi, das zweite ist insofern bemerkenswert, als es sich hier um die vollständige, in „Ver sacrum“ nur als quadratisches Fragment wiedergegebene Arbeit „Stickerinnen“ handelt.[22]

Der lieber Augustin, 1904

1904 war für Leontine Maneles nicht nur künstlerisch gesehen ein sehr ereignisreiches Jahr: Am 18. Oktober 1904 heiratete sie den Wiener Facharzt Dr. Alfred Schwarz (1876–1947)[23], gemeinsam trat das Ehepaar in jenem Jahr aus „dem Judentum aus“.[24] Am 3. November 1905 kam die gemeinsame Tochter Lisbeth Editha zur Welt, die dann am 15. Juni 1912 evangelisch getauft wurde. Die Eltern wurden im Kirchenbuch als konfessionslos eingetragen.[25]

Nach der Geburt ihrer Tochter trat Leontine Maneles als Künstlerin nicht mehr in Erscheinung. Ab dieser Zeit konnten keine weiteren Arbeiten oder Ausstellungsbeteiligungen nachgewiesen werden. Gleichzeitig machte ihr Mann nicht nur als Arzt Karriere, sondern auch als einer der wichtigsten österreichischen Sportfunktionäre. Alfred Schwarz war von 1927 bis 1938 als überaus aktiver Präsident des Österreichischen Eishockeyverbandes tätig. Außerdem gehörte er dem Vorstand des Österreichischen Olympischen Komitees an. Schwarz war ebenso ein Wegbereiter moderner Sportmedizin in Österreich und wirkte 16 Jahre lang als medizinischer Betreuer der Britischen Botschaft in Wien.[26]

Wenn auch Leontine Schwarz-(Maneles) nicht mehr selbst als Künstlerin an die Öffentlichkeit trat, so ermöglichte sie doch ihrer Tochter ein frühe kreative Ausbildung an der Wiener Kunstgewerbeschule. Gerade erst 13 Jahre alt geworden, trat Lisbeth Editha Schwarz am 8. November 1918 in den „Sonderkurs Jugendkunst“ von Franz Cizek ein. Mitschülerinnen und Mitschüler in ihrer Klasse waren unter anderen Franz Hagenauer, Mäda (jun.) und Melitta Primavesi sowie Friedrich Veit. Nach drei Schuljahren bei Cizek setzte sie ihre Ausbildung bei Rudolf Larisch, Karl Witzmann und Josef Hoffmann fort und schloss im Jahr 1925 ihr Studium an der Kunstgewerbeschule ab. Das von Lisbeth Schwarz angestrebte Berufsziel war Kunstgewerbe mit Schwerpunkt Mode, sie betätigte sich aber auch in der Gebrauchsgrafik. So entwarf sie 1928 ein Plakat für den Wiener Eishockeyverband.[27] 1935 war sie, wie man einem Zeitungsbericht entnehmen kann, mit dem Engländer Alfred Roome verheiratet und lebte in Genf in der Schweiz.[28]

Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland flüchtete das Ehepaar Leontine und Alfred Schwarz Ende des Jahres 1938 vor dem Nazi-Terror zunächst zur Tochter Lisbeth in die Schweiz, von wo aus es dann nach England emigrierte. Sie lebten zunächst in London, wo Alfred Schwarz als Hausarzt tätig war. 1941 erhielt er eine Anstellung am Memorial Hospital in Peterborough, wo er bis knapp vor seinem Tod arbeitete. Alfred Schwarz verstarb am 4. April 1947 in Peterborough nach kurzer schwerer Krankheit. Ein Nachruf in der Lokalpresse zeigt, dass er auch in seiner neuen Heimat als Arzt ein beachtliches Ansehen erlangt hatte[29] und dass seine Frau Leontine und er im sozialen Leben der Stadt Peterborough gut eingebunden waren[30].

Nicht einmal zwei Monate nach ihrem Mann starb Leontine Dorothea Schwarz am 26. Mai 1947 im Addenbrook’s Hospital in Cambridge.[31] Ihre Tochter Lisbeth Editha Roome verstarb am 17. Juli 2006 mit über 100 Jahren in Bristol.[32]

Diesen Artikel zitieren:
Bernhard Denscher, Was wurde aus Leontine Maneles? in: Austrian Posters, 25.1.2025, https://www.austrianposters.at/2025/01/25/was-wurde-aus-leontine-maneles/ (Stand: TT.MM.JJJJ).

[1] Heller, Friedrich C.: Die bunte Welt. Handbuch zum künstlerisch illustrierten Kinderbuch in Wien 1890–1938, Wien 2008, S. 364.
[2] Natter, Tobias G. – Max Hollein – Klaus Albrecht Schröder (Hrsg.): Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900, Köln 2016, S. 374.
[3] Rollig, Stella – Fellner, Sabine (Hrsg.): Stadt der Frauen. Künstlerinnen in Wien 1900–1938, München 2019, S. 283.
[4] https://aow.degruyter.com/ (Stand: 14.1.2025).
[5] Die Fläche. Design and Lettering of the Vienna Secession, 1902-1911. Facsimile edition, New York, 2023.
[6] Meldezettel Dr. Alfred Schwarz, Historische Meldeunterlagen, Wiener Stadt- und Landesarchiv.
[7] Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde, Trauungsbücher, 1904, Pag. 1211.
[8] FamilySearch, https://www.familysearch.org/de/
[9] Neue Freie Presse, 11.6.1889, S. 7.
[10] Lehmann’s Allgemeiner Wohnungsanzeiger 1874, Wien 1873, S. 348.
[11] Heller, Friedrich C.: Die bunte Welt. Handbuch zum künstlerisch illustrierten Kinderbuch in Wien 1890–1938, Wien 2008, S. 364.
[12] Ver sacrum, 1.9.1902, S. 260.
[13] Neue Freie Presse, 3.6.1900, S. 8.
[14] Ver sacrum, 1.9.1902, S. 256.
[15] Ver sacrum, 1.4.1903, S. 140, 143, 145.
[16] Die Fläche, 1904/11, S. 173 ff.
[17] Zur genauen Datierung der Hefte: Denscher, Bernhard: „Die Fläche“ und die Wiener Moderne, Wolkersdorf 2021.
[18] Fußnote 2, S. 22.
[19] Der liebe Augustin, 1904/10, S. 143, 154 f.
[20] Der liebe Augustin, 1904/14, S. 217.
[21] Der liebe Augustin, 1904/18, S. 281.
[22] Der liebe Augustin, 1904/23, S. 388, 391.
[23] Kaufmännische Zeitschrift, 1.11.1904, S. 8; Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde, Trauungsbücher, 1904, Pag. 1211.
[24] Heller, Friedrich C.: Die bunte Welt. Handbuch zum künstlerisch illustrierten Kinderbuch in Wien 1890–1938, Wien 2008, S. 364.
[25] Taufbuch der evangelischen Kirchengemeinde Wien-Gumpendorf, 1912, pag. 665.
[26] Peterborough Standard, 11.4.1947, S. 1.
[27] Der Eishockeysport, 21.4.1928, S. 3.
[28] Sport-Tagblatt, 15.1935, S. 4.
[29] Peterborough Standard, 11.4.1947, S. 1.
[30] Peterborough Standard, 8.10.1943, S. 6; 2.6.1944, S. 1.
[31] Peterborough Standard, 30.5.1947, S. 4.
[32] Bristol Post, 20.7.2006; England, Death Records, 1998-2015.