„Gestern erschien an den Anschlagwänden das von Frau Nelly Marmorek entworfene originelle Placat, welches das Nikolofest ankündigt.“[1] Nur selten war in Wien das Erscheinen eines Plakates von den Zeitungen derart Weise angekündigt worden. Daraus kann man ersehen, wie aufsehenerregend modern die von Nelly Marmorek gestaltete Affiche damals gewirkt haben muss. Der so beworbene „Nikolomarkt in Alt-Wien“ fand 1902 an drei Tagen im Kursalon im Stadtpark statt. „Damen der vornehmsten Wiener Gesellschaftskreise“[2] verkauften in einer Art Erlebniswelt, die das biedermeierliche Wien präsentierte, Kunsthandwerk, Spielzeug, Nippes und Erfrischungen zugunsten der „Kinderschutz- und Rettungsgesellschaft“. Die Kreativen der Stadt trugen ihren Teil zum Gelingen der Veranstaltung bei, wie das „Interessante Blatt“ berichtete: „Die Künstler Wiens haben viel für das Fest gethan, den Clou hat, wie erwähnt, Architekt Marmorek mit seinem Alt-Wiener-Platz geschaffen, und Frau Nelly Marmorek hat in einem modernst secessionistischen Placat den Widerpart gehalten.“[3] Auch die renommierte Malerin Tina Blau beteiligte sich mit Studentinnen der von ihr geleiteten „Kunstschule für Damen“ an der karitativen Aktion.
Es war lange Zeit das Schicksal von Nelly Marmorek, dass sie nur als Ehefrau des erfolgreichen Architekten und engagierten Zionisten Oskar Marmorek und als Tochter des bekannten Bankiers Julius Schwarz wahrgenommen wurde. Doch schon die wenigen von ihr erhaltenen Werke zeigen, dass sie als eigenständige schöpferische Persönlichkeit gewürdigt werden sollte.
Die Künstlerin wurde am 13. Mai 1877 in Wien als Cornelia Schwarz geboren und entstammte väterlicherseits einer sehr wohlhabenden Bankiersfamilie.[4] Das musische Talent brachte offenbar ihre Mutter ein, die eine Schwester des zu jener Zeit bekannten und erfolgreichen Komponisten Ignaz Brüll war.[5] Nelly, wie sie genannt wurde, zeigte bald eine zeichnerische Begabung und strebte – unterstützt durch ihr kunstsinniges Elternhaus, in dem Komponisten wie Gustav Mahler oder Johannes Brahms und Schriftsteller wie Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal verkehrten – eine künstlerische Ausbildung an.
1901 begann sie ein Studium an der Wiener Kunstgewerbeschule, wo sie unter anderem Schülerin von Alfred Roller und Carl Otto Czeschka war. Zu ihren Mitstudierenden gehörten unter anderen Hilde Exner, Emma Schlangenhausen, Moriz Jung und Rudolf Kalvach. Dass sich in „Ver sacrum“ ein Originalholzschnitt von ihr findet[6] und sie in dem Mappenwerk „Die Fläche“ vier Arbeiten publizieren konnte[7], zeigt wohl, dass Marmorek von ihren Lehrern zu den besten ihres Jahrganges gezählt wurde. Im Archiv der Universität für angewandte Kunst in Wien hat sich eine Fotografie aus der Klasse Roller erhalten, in der beide in der „Fläche“ abgebildeten Plakatentwürfe von Nelly Marmorek zu sehen sind. Das Bild, auf dem höchstwahrscheinlich die Künstlerin selbst bei der Arbeit zu sehen ist, dokumentiert auch, dass die Plakatentwürfe nicht bloß kleine Skizzen waren, sondern in Originalgröße ausgearbeitet wurden.[8]
Nachdem Oskar Marmorek, mit dem sie seit 1897 verheiratet war, 1909 Suizid begangen hatte, zog Nelly Marmorek wieder in die elterliche Wohnung in der Berggasse 13, wo sie bis 1928 offiziell gemeldet war.[9] Die meiste Zeit verbrachte sie jedoch in Frankreich, wo sie bei Henri Matisse Malerei studierte und auch am Ausstellungsbetrieb teilnahm. Im Zweiten Weltkrieg lebte Nelly Marmorek in Cannes. 1942 wurde Südfrankreich von den Deutschen Truppen besetzt und nun waren auch die hier lebenden oder hierher geflüchteten Jüdinnen und Juden, wie eben auch Nelly Marmorek, dem Terror der nationalsozialistischen Machthaber ausgesetzt. Marmorek konnte nicht mehr in die USA ausreisen, am 11. März 1944 verstarb sie in Cannes.
In ihrer Studie zu Nelly Marmorek schrieb Ingrid Erb nach grundlegenden Recherchen: „In Nellys Totenschein steht die Adresse Villa Baron, Avenue Isola Bella, Cannes. Eine Todesursache wird nicht vermerkt. Die Villa Baron wurde im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Truppen beschlagnahmt und von der nationalsozialistischen Besatzungsmacht als Kommandantur genutzt. Am 14. März 1944 wurde Nelly Marmorek auf demCimetière Le Grand Jas als Einheimische auf gemeinsamem Grund mit einer Konzession auf fünf Jahre beigesetzt.“[10]
[1] Neues Wiener Tagblatt, 23.11.1902, S. 9.
[2] Neues Wiener Jourmal, 2.12.1902, S. 4.
[3] Das interessante Blatt, 11.12.1902, S. 5.
[4] Sandgruber, Roman: Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910, Wien 2013, S. 439.
[5] Denscher, Barbara: Der Operettenlibrettist Victor Léon. Eine Werkbiografie, Bielefeld 2017, S. 181ff.
[6] Ver Sacrum, 1903/12, S. 227.
[7] Vgl. dazu: Maryška, Christian: Hoffentlich gefällt’s Ihnen bei uns in Wien. Jüdische Gebrauchsgrafikerinnen bis 1938, in: Winklbauer, Andrea – Sabine Fellner (Hrsg.): Die bessere Hälfte – Jüdische Künstlerinnen bis 1938, Wien 2016, S. 136; Denscher, Bernhard: Die Fläche und die Wiener Moderne, Wolkersdorf 2021.
[8] Universität für angewandte Kunst Wien, Kunstsammlung und Archiv, Inv. 18.474/F.
[9] Hier und in der Folge: Erb, Ingrid: Nelly Marmorek. Malerin, Mäzenin oder Muse?, in: Shapira, Elana (Hrsg.): Design Dialog: Juden, Kultur und Wiener Moderne, Wien 2018, S. 247ff.
[10] Ebenda, S.258.
Printpublikation in: Bernhard Denscher, Gebrauchsgrafik aus Österreich. 51 Lebensläufe. Aesculus Verlag, Wolkersdorf 2022, S. 70–73