Eine „beachtenswerthe Kunstleistung“ sei das Plakat, so wie es im Paris des Fin de Siècle zu finden sei. Wieso dies so war und wie es im Vergleich dazu um die Wiener Plakatszene bestellt war, darüber gab ein Artikel Auskunft, der am 18. Juli 1895 im „Neuen Wiener Tagblatt“ zu lesen war. Autor des – prominent auf Seite 1 platzierten – Feuilletons war der Journalist und Schriftsteller Carl Colbert[1] (1855–1929), der zu den zentralen Persönlichkeiten der damaligen Wiener Medienszene gehörte. Colbert war Mitbegründer und Herausgeber der ab 1888 erscheinenden Illustrierten „Wiener Mode“, gründete später noch weitere Zeitungen, schrieb ein Libretto für Johann Strauss, einen Roman und eine Vielzahl von Reportagen und Essays.
Vor einiger Zeit besuchte ich einen der bekanntesten Pariser Maler, dessen Bilder alljährlich zu den Zierden der Ausstellung auf dem Champs de Mars gehören. Der jugendliche Meister empfing mich in seinem reizenden Sommeratelier in Chaton mit der gewohnten Liebenswürdigkeit; doch nachdem er sich wenige Augenblicke mit mir unterhalten hatte, bat er mich um Entschuldigung Er müsse mich für kurze Zeit allein lassen, um eine dringende Arbeit zu vollenden; im Arbeitssaale befinde sich nämlich ein Modell in einer ganz unmöglichen Stellung, in der er die arme Person nicht eine Minute unnöthig lassen dürfe. „Sehen Sie übrigens selbst!“
Wir traten in den Malsaal und was ich da sah, war allerdings erstaunlich genug. Ein recht hübsches Mädchen mit dem echten Pariser Grisettengesicht, in einer jener excentrischen Toiletten, wie man sie an den Besucherinnen des ‚Moulin Rouge‘ und ähnlicher Vergnügungslocale des Montmartre kennt, war in einer der ausgelassensten Stellungen des ‚Chahut‘, dieser berüchtigten Entartung des Cancan (man denke: ein entarteter Cancan!) festgebunden. Auf der Staffelei sah man in flotten Tönen das phantastische Bild der Tänzerin, an dem mein Freund, schon wieder ganz bei seiner Aufgabe, ernst weiterarbeitete.
„Und was wird das?“ fragte ich, nachdem das Modell endlich aus seiner wenig beneidenswerthen Stellung entlassen worden war.
„Selbstverständlich ein Placat!“ war die Antwort Da der Künstler aus meiner Miene nicht geringes Erstaunen lesen mochte, fuhr er fort: „Staunen Sie darüber, daß ich ein Placat entwerfe oder darüber, wie ich dabei verfahre?“
„Ich staune, um ganz offen zu sein, über Beides.“
„Nun, dann haben Sie, um ebenso offen zu sprechen, zweimal Unrecht. Wir französischen Künstler haben längst das Vorurtheil abgelegt, als ob es in der Kunst Niederungen gäbe, in die hinabzusteigen unsere Würde verbietet. Was immer Gelegenheit gibt, eine wirkliche Kunstäußerung anzubringen, das betrachten wir als unsere Domäne, denn wir sagen uns und wie ich glaube mit Recht: nichts bildet mehr das künstlerische Gefühl einer Nation, nichts erzieht sie so sehr zum kunstverständigen Schauen wirklicher Kunstwerke, als wenn ihr Gelegenheit geboten wird, auch die an sich untergeordneten Objecte des täglichen Lebens in künstlerisch werthvollen Formen zu sehen. Dagegen wirkt nichts so corrumpirend als die Gewöhnung an schlechte oder auch nur gleichgiltige Gegenstände des Gebrauchs. Deshalb stellen wir, mögen wir Maler oder Bildhauer sein, unser Können sehr gerne in den Dienst jener Geschäftszweige, welche Artikel produciren, die man früher schlecht oder doch künstlerisch werthlos erzeugt hat. Dabei fährt die Kunst gut, die Unternehmer gewinnen und wir – fügte er lächelnd hinzu – haben uns auch nicht zu beklagen.“
„Aber ein Placat? Ein Meister wie Sie und ein Placat?“
„Lassen wir den Meister, wenn Sie wollen, und sprechen wir vom Placat. Kennen Sie einen Gegenstand des täglichen Lebens-, der aufdringlicher zu Millionen Augen spricht, als das Placat, in diesem Paris, das doch wahrhaftig einer Riesenaffichentafel gleicht? Gewiß nicht! Und gilt deshalb nicht Alles, was ich soeben vorbrachte, ganz besonders für das Placat? Ist dieses nicht das wirksamste Mittel, um das Volk, dessen große Mehrzahl weder Museen noch den ‚Salon‘ besucht, zum künstlerischen Schauen zu erziehen? Blicken Sie nicht ironisch auf die Beine meiner armen Tänzerin! Das ist kein Argument gegen meine Doctrin. Die Beine einer Tänzerin werden nicht moralischer, wenn sie schlecht gezeichnet sind, wohl aber verderben sie dann außer der Moral auch das Auge. Und ist es unsere Schuld, wenn Tanzetablissements häufiger Placate bestellen, als moralische Anstalten? Gehen Sie übrigens zu Sagot und Sie werden Affichen sehen, die Ihr Kunstgefühl erfreuen werden, ohne Ihr moralisches zu verletzen.“
Ich mußte mich angesichts so kräftiger Argumente wohl geschlagen geben. Man wird es aber begreiflich finden, daß der hohe Ernst, mit dem ein so ausgezeichneter Künstler an eine anscheinend so nichtige Ausgabe ging (was war ein Placat in den Augen eines Wieners?) mich veranlaßte, der Angelegenheit weiter nachzugehen.
Ich war überrascht von dem, was ich erfuhr.
Mein Freund war durchaus keine Ausnahme. Künstler ersten Ranges betreiben das Entwerfen von Affichen als eine Specialität, die ihnen Ruhm und fürstliche Einnahmen bringt. Die einen, wie Chéret, der Begründer der Richtung, Meunier, Guillaume erreichen die beabsichtigte Wirkung durch überraschende Nebeneinanderstellung von Farben, andere, wie Bontet de Mouvel, Réalier-Dumas, Steinlen durch die auffallende Zeichnung, alle aber lösen in wunderbarer Weise die Aufgabe, mit wenigen, meistens vier oder fünf Drucken, etwas zu schaffen, das aus dem colossalen Farbenconcerte der Pariser Placate als selbständige Melodie heraustönt.
Daß hiezu außer dem sorgfältigsten Abwägen der Effecte auch die größte künstlerische Gewissenhaftigkeit unerläßlich ist, liegt auf der Hand. Das Modell meines Freundes zeigt, wie weit dieselbe geht Sie erstreckt sich aber nicht blos auf den Originalentwurf, sondern ebensosehr auf die Reproduction. Keiner dieser Künstler läßt ein Placat drucken, ohne die Herstellung der lithographischen Steine controlirt zu haben. Bei meinen diesbezüglichen Studien hatte ich Gelegenheit, zu sehen, wie der berühmte Forain, dessen satirische Zeichnungen mit Gold aufgewogen werden, selbst die Contouren eines Placates auf den Stein zeichnete. Und auf meine Anfrage erfuhr ich, daß dies die Regel sei, die Ausnahme aber, wenn ein Künstler die Uebertragung der Contouren einer fremden Hand überlasse.
Allerdings-sind auch die Honorare, welche für solche Arbeiten bezahlt werden, sehr bedeutend; Beträge bis zu fünftausend Francs für die Zeichnung eines Placats gehören durchaus nicht zu den Seltenheiten, tausend bis fünfzehnhundert bilden die Regel. Diese Ziffern, von deren Richtigkeit ich mich überzeugt habe, dürften wohl geeignet sein, manchen Wiener Unternehmer in Erstaunen zu versetzen. Allerdings würde er vermuthlich noch mehr erstaunen, wenn er Gelegenheit hätte, die durch eine so kostspielige Reclame erzielten Resultate kennen zu lernen.So ist man wohl berechtigt, das Pariser Placat fin de siècle als eine beachtenswerthe Kunstleistung anzusehen, die, wenn sie gleich von Ausschreitungen nicht frei ist, an dem großen Werte der künstlerischen Bildung des Volkes mitwirkt und in das Straßenleben ein neues Element voll eigenartigen Reizes gebracht hat. Ist vielleicht auch einmal eine Operettendiva etwas zu stark decolletirt, ein Tanzpas etwas zu frei bewegt, so liegt ja das nicht an der Kunst; oder glaubt man, daß die Besteller solcher Darstellungen reservirter gewesen wären, wenn sie ihren Auftrag statt einem großen Künstler, einem stümperhaften Handwerkslithographen gegeben hätten?
Hier will ich denn auch erwähnen, daß das Placat, wie in unserem sammelwüthigen Zeitalter eigentlich zu erwarten stand, auch wirklich schon Gegenstand der Sammellust geworden ist. Das Magazin eines Pariser Kunsthändlers, des eingangs erwähnten Sagot, ist der anerkannte Centralpunkt der ‚Collectionneurs d’affiches‘, welche für besonders schöne oder seltene Placate, für einen Chéret ‚avant la lettre‘, einen Villette oder Grasset ganz erhebliche Preise bezahlen. In einem Kataloge der genannten Kunsthandlung finde ich eine Affiche von Chéret mit 5 Francs, ein Exemplar ‚avant la lettre‘ mit 15 Francs, vier andere Placate desselben Künstlers sogar mit 120 Francs notirt. Ein schönes Placat von Mucha, Sarah Bernhardt als ‚Ghismonda‘ darstellend, kostet 15 Francs u.s.w. Allerdings wird eine solche Sammlung, ganz abgesehen von dem wirklichen Kunstwerthe, den die meisten Blätter besitzen, in einiger Zeit einen höchst interessanten Beitrag zur Sittengeschichte unserer Tage bilden. Dies ist offenbar auch die Auffassung der meisten Sammler, unter denen sich auch einige öffentliche Bibliotheken, wie z.B. das Cabinet des Estampes in Paris und die königliche Bibliothek in Berlin befinden, welche mit großer Vollständigkeit die anscheinend so frivolen und doch mit so großem künstlerischen Ernste hergestellten Straßenplacate sammeln.
Wir wollen diese kurze Skizze nicht schließen, ohne den Wunsch auszusprechen, daß auch bei uns eine Reform des Placats im angedeuteten Sinne eintreten möge. Was man bei uns an den Placattafeln sieht, ist, insoferne es sich um Bildwirkung handelt; in der Regel ebenso kindlich unbeholfen, als künstlerisch ungenügend. Ein Placat von Schließmann gehört zu den größten Raritäten, Placate von Veith, Heinrich Lefler, Vincenz Berger, Trentin, mit guten Landschaftsbildern gezierte Eisenbahnplacate von Seelos, Varrone etc. sind für ganz bestimmte Zwecke und nur in Ausnahmsfällen angefertigt worden. Sollte unsere Geschäftswelt weniger Muth für die Bestellung solcher Placate haben? An den Künstlern würde es wohl nicht fehlen, wenn sich die Sache selbst einmal auch bei uns eingebürgert hat.
Colbert, Carl: Pariser Placate, in: Neues Wiener Tagblatt, 18.7.1895, S. 1f.
[1] „Das Beispiel Colbert. Fin de siècle und Republik. Ein dokumentarischer Essay“ lautet der Titel einer umfangreichen, von Alexander Emanuely verfassten Colbert-Biografie, die 2020 im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erschienen ist.
Informationen über Carl Colbert bringt auch ein Interview mit Alexander Emanuely auf der Website des Wien Museums.