Die Wiener Straße ist lärmend geworden. Man braucht dabei nicht gerade an lebensgefährliche Ereignisse zu denken. Es gibt ein Schreien der Farben, eine politische Propaganda, die nicht mordet und brennt, sondern durch Bilderillustrationen, durch eine Polemik des Zeichenstiftes und des groben Pinsels hartnäckig überzeugen will. Eine Serie von ein paar Plakaten, aber über die ganze Stadt verstreut, Tapeten, nicht gerade sehr abwechslungsreich dessiniert, aber aufdringlich. So aufdringlich wie etwa Hausierer, von denen man nichts will, aber es nutzt nichts, sie kommen immer wieder. So sind diese Plakate. Man kann ihnen nicht entfliehen, sie sind dort, wo wir sind, denn sie sind überall. Nicht mehr zu hemmen, nicht mehr zur Ruhe zu bringen, wenn man sie einmal aufgehetzt, aufgehußt losgelassen hat. Da hängen noch immer, zerfetzt, herabgerissen, die letzten Reste: „Wählet bürgerlich-demokratisch”. Das Plakat hat den Schreikrampf und kann nun, da es niemand mehr beachtet, nicht mehr aufhören. Denn es schrie durch Wochen tobsüchtig: „Wählet bürgerlich-demokratisch! Wählet diesen oder jenen!” Und dann schrie es auch: „Theo Matejko! Theo Matejko! Theo Matejko!”
Wer ist Theo Matejko? Vor einem halben Jahre, vor den Wahlen kannte ihn noch niemand. Er gehört – obgleich er der Politik nicht näher steht als etwa ein Fiaker, der einen Wähler zur Urne fährt – zu jenen, die durch den Umsturz, besser durch die Wahlen, berühmt wurden: obgleich er niemals kandidierte. Denn alle Plakate rufen seinen Namen aus, ohne daß er für sich Reklame macht, und da wird er bald so populär sein wie Antinikotin, Wanzengift oder Samum-Zigarettenhülsen. Ob er will oder nicht. Aber warum sollte er nicht wollen?
Wer ist also dieser Großindustrielle des Kunstgewerbes dieser Fabrikant bildmäßiger Reklame? Ein Wiener, der schon als Kind Maler werden wollte und vor kurzem, im Kriege, Maler wurde, es eigentlich schon längst war, aber es erst vor einigen Jahren einigermaßen gewerbsmäßig versuchte. Ohne Kunstakademie, ohne Schule, ein Autodidakt. In seinem Fronttornister trug er, mit Konserven und Zeltblatt, den Marschallstab des Illustrationszeichners, einige defekte Kriegsmotive, die er der „Leipziger Illustrierten” einschickte. Seither erschienen in der „Leipziger Illustrierten” regelmäßig die auf den Effekt ausgehenden, mit starkem Griff die Sensation packenden, immer die brutale Wirkung forcierenden ganzseitigen Plakate Matejkos. Er machte damals, wie viele andere, dem Krieg Reklame – indem er seine Schrecken zeigte. Denn man nannte das damals Patriotismus und dergleichen. Man begreift, daß das k. u. k. Kriegspressequartier sich einen so tüchtigen Agitator nicht entgehen ließ. Man brauchte ihn dort, befahl ihm die Reklame für den Krieg. Er mußte ein Album fabrizieren, dessen Sujets – zur Hebung des Seelenausschwunges! – alphabetisch geordnet waren, etwa: Artillerie, Beschießung usw. Er porträtierte auf Kommando die hohen Offiziere, kurz: ein Maler des k. u. k. Kriegspressequartiers. In seinem Atelier sind noch immer rotgestreifte Exzellenzen und Generalstabsoberste zu sehen; sie sind erheblich billiger zu haben als die Anpreisungen eines Haarfärbemittels.
Wieso Theo Matejko der Maler der Plakate wurde? Wie dieser junge Mensch mit den sanften blauen Augen nicht ohne Kunstideale und zur demokratischen Überzeugung hinneigend, ein Massenverschleißer kunstgewerblicher Produkte geworden? Ein Lieferant, ein Großverschleißer für den Industriemarkt, für die Reklame von Waren und politischer Begeisterung? Matejko ist aufrichtig: Er weiß es nicht. Wie ja kaum jemals ein Erfolgreicher zu berichten vermag, wieso, warum und wodurch er zum Erfolg kam. Es kam eine Bestellung, dann kam noch eine Bestellung, Die Wahlkomitees wandten sich an ihn, heute malt er mindestens ein Plakat täglich, ist überhäuft, kann die Besteller nicht befriedigen, ist mitten im Erwerbsfieber, Zigarettenpapierfabrikanten und politische Propagandakomitees, Heurige und Kinounternehmungen erhoffen von ihm einen günstigen Geschäftsgang, und es versteht sich von selbst, daß er dabei, keinen schlechten zu buchen hat… Nun ist Wien eine Stadt, die jedem, der Geld verdient, ein Klampferl anhängt, wie man so sagt. Und wenn sich gar ein Künstler untersteht, nicht zu verhungern, oder gar so vermessen ist, gut zu leben, so erklärt man ihn degradierend für einen Handwerker und drückt damit aus, daß er lieber Konzessionen macht, als an Tuberkulose zugrunde geht. In Wien aber werden gerade die Künstler, die verhungert sind, mit den lobpreisendsten Nekrologen, mit dem anerkennendsten „Wie schrecklich” begraben.
Aber durch Matejkos kommerzielle Begabung ist seine künstlerische nicht verloren gegangen. Er versteht es, auch noch als Industrieller Künstler zu bleiben. Die geschäftlichen Angelegenheiten läßt er durch einen Freund besorgen, während er selbst in seinem weißen Chirurgenmantel an der Leinwand steht. Die Entwürfe sind seine eigenen Ideen und er läßt sich da weniger dreinreden, als den Champagnerfabrikanten und den Seifenverschleißern, die für das künstlerische Bild kein Verständnis, kaum ein Urteil über dessen merkantile Erfolgswirksamkeit haben, lieb ist. Es ist nun das Verdienst Matejkos, daß er das Bild, die Bildreklame als neues Wiener Straßentapetenmuster einführte, das er von der Berliner Schablonenfläche befreit und ganz pariserisch aufgemacht hat. Aus seinem Atelier wurde Wien zum erstenmal mit einer illustrierten Propaganda im politischen Kampf versorgt und überschwemmt. Sein Farbenkasten wurde ein Munitionskasten, aus dem gegen Freund und Feind, gegen die Christlichsozialen und gegen die Bürgerlichen und gegen, die Demokraten geschossen wurde, der dem Sieg und zugleich der Niederlage ein- und derselben Fraktion diente. Er kämpfte in prompter Ausführung der Bestellungen eines Wahlkomitees gegen das feindliche, schüttete aus seinem Farbentopf die ganze bunte Reklame als Aussaat des Hasses auf die Straße und mobilisierte auch die gleichstarke Dosis Sarkasmus gegen jene Partei, die er auf dem benachbarten Plakat durch dieselbe, nur mit dem entgegengesetzten Vorzeichen in die entgegengesetzte Tendenz verkehrte Reklame zum Sieg anprieß. Er arbeitete für die Demokraten und für die Bürgerlichen und stand dabei auf jener Warte, die über den Zinnen der Partei. Nur fraglich, ob er nicht erst herabsteigen mußte, um zu dieser Warte zu gelangen. Der Künstler soll kein Politiker sein. Matejko sagt es selbst. Da er aber nun einmal ein Politiker ist und bei aller künstlerischen Neutralität doch mehr zur Demokratie neigt, kann bei den nächsten Gemeinderatswahlen der Bilderschmuck seine Namensarabeske ganz und ausschließlich dem illustrierten Kampfarsenal dieser Partei gehören.
Es steckt überhaupt mehr Politik in ihm, als er zugeben möchte – gerade weil er ein mit der Politik verbündeter Künstler ist. Mit den Demokraten hat er außer den geschäftlichen noch die Beziehungen der persönlichen Überzeugung, mit den Bürgerlichen, nur die geschäftlichen. Da hängt ein Plakat: Eine tiefdekolletierte Dame, auf umgestürztem Fürstenthrone, die Jakobinermütze auf der Frisur, eine Krone mit ihrem bis auf den Strumpf entblößten Fuß fortschleudernd. Das sieht wieder nach einer demokratischen Wahlagitation aus, ist eine Reklame für eine Wochenschrift, und sein „Götz”, auf dahinfliegendem Pferd, den Mantel im Sturm zerflatternd, könnte als republikanisches Freiheitssymbol, als eiserne Ritterfaust, welche die alten Fesseln zerschlägt, gedeutet werden… Er arbeitet gleichzeitig daran, daß das Kino, die Marke eines Rasierapparats und die Wahlurne benutzt werden. Sein Atelier ist ein bunter Basar aller Waren, die er anpreist… Aber von diesem Atelier, von diesem jungen, blonden Künstler hat die verspießerte, nüchterne Wiener Straße eine republikanische Lebendigkeit, eine pariserische Pikanterie, kurz: wieder ein Gesicht bekommen. Man kann dies feststellen, ohne dem Maler der Plakate Reklame zu machen. Er hat es nicht notwendig. Mit der Gesamtleistung dieser Reklame, mit den Matejko-Plakaten versorgt er alle Klienten, alle Unternehmungen, auf jeden entfällt ein Bruchteil, auf ihn das Ganze. Mag er ein Kino, eine Konservenfabrik oder einen Heurigen anpreisen, auf der Konservenfabrik wie auf dem Kinodrama steht sein Name: Theo Matejko. Der Dichter Kyselak, ein Maniker, der sich überall hinkritzelte, ist mit Matejko verglichen, ein die Öffentlichkeit fliehender Anachoret.
Der Maler der Plakate, in: Egon Dietrichstein: Die Berühmten, Wien 1920, S. 140ff. Der Text in dieser Sammlung folgt im Wesentlichen einem Artikel von Egon Dietrichstein im „Neuen Wiener Journal“ vom 6.6.1919. Die ursprüngliche Rechtschreibung wurde beibehalten.
Herrn Dr. Kurt Scholz wird herzlich für den Hinweis auf dieses Feuilleton gedankt.