Lange stand bei der Beschäftigung mit Kunstwerken, das „Werk an sich“, also eine bevorzugt werkimmanente Interpretation, im Fokus. Getragen war diese Sicht vor allem von der romantischen Idee der Bewunderung des „Genies“ der Kunstschaffenden. Daraus leitete sich eine Sicht auf die kreativen Prozesse ab, bei der allerdings die sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, in denen die künstlerischen Arbeiten entstanden, meist ebenso wenig Beachtung fanden wie die weitere Geschichte der Werke. Kunstsoziologische Ansätze veränderten diesbezüglich einiges, wesentlich neue Impulse aber hat hier vor allem die Provenienzforschung im Zusammenhang mit der Erforschung der Eigentumsverhältnisse von NS-Raubkunst gebracht. Gleichzeitig sind Sammlungen zunehmend in das Interesse der Forschung gerückt.
Einem interessanten Bereich in diesem Themenfeld hat sich nun der renommierte Kunsthistoriker und ausgewiesene Wien-um-1900-Experte Tobias G. Natter gewidmet. Er ist in einer neuen Publikation der originellen Fragestellung nachgegangen, für welches Umfeld Gustav Klimt seine Werke schuf. „Was mich an ‚Gustav Klimt Interiors‘ aber am meisten überrascht hat: Diese Art Buch würde für keinen anderen ‚Großmeister‘ funktionieren, nicht für Monet, nicht für Picasso, nicht für van Gogh. In Paris hingen die Bilder in schönen Salons im Stil Louis XVI. Aber nur bei Klimt und ‚Wien 1900‘ finden wir dieses faszinierende Zusammenwirken von Avantgarde-Design und Raumkunst“, so Natter zur Motivation für sein neues Werk.
Das Buch ist in englischer Sprache im Münchner Prestel Verlag in Kooperation mit der „Neuen Galerie“ in New York erschienen. Nahezu detektivisch hat Natter dafür Fotomaterial von Innenräumen ausfindig gemacht, auf denen die Gemälde von Klimt an ihren ursprünglich geplanten Präsentationsorten zu sehen sind. Eine optisch besonders reizvolle Idee war es, die Fotografien so zu bearbeiten, dass die Klimt-Bilder in die historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen in Farbe eingefügt wurden – moderne digitale Bildbearbeitungsprogramme machen es möglich (siehe auch Buchcover).
In seinem einführenden Essay stellt Natter kompetent kommentierend die verschiedenen Aspekte von „Gustav Klimt in situ“ dar. Er beschreibt die historischen Rahmenbedingungen, geht auf die Gründung der Wiener Secession und ihre neuartigen Ausstellungsgestaltungen ein sowie auf die „domestic worlds of Klimt’s collectors“. Diese waren stark von den Gedanken des Gesamtkunstwerks geprägt, wie sie die Wiener Secession und die Wiener Werkstätte vertraten. Dass das Hauptwerk der Wiener Kunst um 1900 sich nicht in Wien, sondern im Palais Stoclet in Brüssel befindet, ist allerdings ein weiteres Paradoxon in der an Seltsamkeiten reichen Kaiserstadt.
Im Hauptteil des Buches wird – mit den entsprechenden Abbildungen der Gemälde prachtvoll illustriert – den ursprünglichen Präsentationsorten von Klimts Werken nachgespürt. Sehr reizvoll ist es da zum Beispiel, die Ikone der Wiener Moderne, Klimts Pallas Athene, in der von Josef Hoffmann gestalteten Secessions-Ausstellung im Jahr 1903 zu sehen, um dann das Gemälde auf einem Foto des von Kolo Moser und Hoffmann entworfenen Verkaufsraumes der Wiener Werkstätte wieder zu entdecken. Weiters sind das Porträt von Sonja Knips in der von Josef Hoffmann geplanten Villa Knips in Wien-Döbling zu sehen, wie auch das Bild „Obstbäume“ aus dem Jahr 1901 in der ebenfalls von Hoffmann gestalteten Stadtwohnung der Familie Knips in der Gumpendorferstraße. Der Schriftsteller Hermann Bahr posiert vor Klimts „Nuda Veritas“ in seiner von Joseph Maria Olbrich, dem Architekten des Wiener Secessionsgebäudes, entworfenen Wiener Villa in Ober St. Veit. Szerena Pulitzer Lederer wiederum ist auf einer Fotografie aus dem Jahr 1928 vor ihrem 1899 von Klimt fertiggestellten Porträt zu sehen. 1901 wurde das Bild in einer von Kolo Moser entworfenen Installation zum Thema Porträt im Rahmen der 10. Ausstellung der Secession im Jahr 1901 öffentlich ausgestellt.
Neben weiteren detaillierten Einblicken in die Klimt-Präsentationen der Wiener Secession wird dem Porträt von Marie Henneberg in der von Josef Hoffmann geplanten, aber leider nicht mehr erhaltenen Villa Henneberg in Wien-Döbling besonderes Augenmerk geschenkt. Ebenso sachkundig und informativ wird dem Umfeld einer Reihe weiterer bedeutender Klimt-Gemälde nachgespürt. Das reicht von den Porträts von Emilie Flöge und Margaret Stoneborough-Wittgenstein über Klimts Landschaftsbilder bis zur „Goldenen Adele“ Bloch-Bauer und dem – man ist geneigt zu sagen: unvermeidlichen – „Kuss“. Berührend ist das Bild aus Klimts Atelier in der Feldmühlgasse im 13. Wiener Gemeindebezirk, das unmittelbar nach Tod des Künstlers im Jahr 1918 mit seinen beiden letzten Arbeiten aufgenommen wurde.
Das Buch von Tobias G. Natter ist allen, die sich für Kunst- und Kulturgeschichte interessieren, sehr zu empfehlen – oder, wie es die Direktorin der „Neuen Galerie“ in ihrem Vorwort zu der Publikation auf den Punkt bringt: „The idea for this book, then, was to present the paintings in situ, through evocative black and white period photographs in which the art seems to burst forth in a blaze of color. Seeing them gathered here, they offer an almost magical type of access for a rapidly disappearing world.”
Tobias G. Natter: Gustav Klimt Interiors. Prestel, München – London – New York, 2023. Das Buch ist in englischer Sprache abgefasst.
Die Abbildungen in diesem Beitrag stammen aus rechtlichen Gründen nicht direkt aus dem Buch des Prestel-Verlags, sondern wurden für diese Rezension neu zusammengestellt und teilweise collagiert. Damit soll so eine Vorstellung von der Bildstrategie der Publikation vermittelt werden.