Nachdem der neue Direktor der Kunstgewerbeschule in Wien, Felician von Myrbach, im Jahr 1899 zeitweilige Beschränkungen des Frauenstudiums aufgehoben hatte, kam es in den folgenden Jahren zu einer merklich stärkeren Präsenz von Frauen in der österreichischen Kunstszene. Die Maßnahme des Direktors bewies darüber hinaus auch, wieviel weibliche Kreativität durch die Diskriminierung im Ausbildungswesen bis dahin behindert worden war. In dem Mappenwerk „Die Fläche“, das zunächst von 1902 bis 1904 und dann 1910/11 als eine Art „Musterbuch der Moderne“ im Umfeld der Kunstgewerbeschule erschien, ist das herausragende Potential junger Künstlerinnen zu Anfang des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll dokumentiert.
Wiederholt wurde auf das bedauerliche Phänomen hingewiesen, dass derartige Leistungen weiblicher Kreativität gerade im Bereich des Grafikdesigns allmählich wieder unsichtbar wurden, die betreffenden Persönlichkeiten oft in Vergessenheit gerieten und somit aus dem Katalog der Designgeschichte hinausgedrängt wurden.[1]
Dies hat wohl verschiedene Ursachen, doch die beiden Hauptgründe dafür sind sicher zum einen, dass Designerinnen die im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen wesentlich schwierigere Rahmenbedingungen bei der Ausübung ihrer künstlerischen Tätigkeit hatten, und zum anderen ist es die gendermäßige Asymmetrie in der historischen Darstellung sowohl in Publikationen als auch bei Ausstellungen.
Ein Beispiel für jene Frauen, die um 1900 ihre künstlerische Karriere brillant begannen, aber im Laufe der Jahre zu Unrecht kaum mehr wahrgenommen wurden, ist Johanna Maria Hollmann. Sie wurde am 15. Mai 1883 in Wien geboren und auf die Namen Johanna Maria katholisch getauft.[2] Ihre Mutter hieß – was damals häufig war – ebenfalls Johanna Maria mit Vornamen und mit Geburtsnamen Budina. Ihr Vater war der renommierte Kunsttischler Wenzel Hollmann, der für Otto Wagner, Joseph Urban oder Josef Hoffmann arbeitete, aber auch für junge Designer, wie etwa Max Benirschke oder Johann Scharfen, tätig war.
Nach Pflichtschule und „genossenschaftlicher Fortbildungsschule“ besuchte Johanna Hollmann – vom kreativen Umfeld ihrer Familie geprägt – von 1901 bis 1906 die Wiener Kunstgewerbeschule. Sie studierte bei Koloman Moser in der „Fachschule Malerei“, absolvierte bei Rudolf von Larisch den Kurs „Schrift und Heraldik“ und lernte bei Adele von Stark die Technik des Emaillierens. Gleichzeitig mit ihr besuchte auch ihr drei Jahre jüngerer Bruder Alois die Kunstgewerbeschule, wo er bei Josef Hoffmann Architektur studierte, und ein angesehener Möbelentwerfer und Inneneinrichter wurde. In der Folge übernahm er auch den Tischlereibetrieb seines Vaters.[3]
Die Zeichen der Zeit waren Anfang des 20. Jahrhunderts relativ günstig und Johanna Hollmann konnte den Hype, der damals um junge Kunst in und aus Wien bestand, zunächst gut nützen. Dass die Lehrkräfte der Kunstgewerbeschule ihr kreatives Potenzial hoch einschätzten, beweist, dass in der „Fläche“ nicht weniger als zehn Werke von ihr abgebildet wurden. Es waren dies Entwürfe für Flächenmuster, Vorsatzpapiere, Holzintarsien und verschiedene kleine grafische Zierstücke.[4]
Ein besonderer Vertrauensbeweis in die Fähigkeiten der Familie Hollmann war die Publikation „Jung Wien. Ergebnisse aus der Wiener Kunstgewerbe-Schule“: Denn darin waren sowohl Architekturentwürfe von Alois Hollmann als auch Porzellandesign von Johanna Hollmann enthalten.[5]
Bereits 1903 wurde ein in der Klasse Moser entstandener Schreibkasten von Johanna Hollmann in der Jahres-Ausstellung der Kunstgewerbeschule gezeigt und im Fachmagazin „Das Interieur“ entsprechend publiziert,[6] in der Zeitschrift „Kunst und Handwerk“ wiederum wurde ein Papiermesser mit Holzintarsien von Johanna Hollmann aus der Präsenation der Kunstgewerbeschule abgebildet.[7] 1904 zeigte die Galerie von Gustav Pisko eine Schau mit Werken von ausschließlich weiblichen Künstlerinnen, an der auch Hollmann teilnahm.[8] Im selben Jahr folgte eine Präsenz Hollmanns in der „Ausstellung von Spielen und künstlerischem Spielzeug“ im mährischen Gewerbemuseum in Brünn.[9] Ebenfalls in Brünn nahm sie ein Jahr später an der prominent besetzten Frauenkunstausstellung teil.[10] 1906 wurden sogar Werke von ihr in der Frühjahrsausstellung in der sonst nicht gerade frauenfreundlichen Wiener Secession präsentiert.[11] Im selben Jahr wurden Holzfiguren der Künstlerin im Rahmen einer Weihnachtsschau in Linz gezeigt.[12] Um die gleiche Zeit lobte die britisch-österreichische Kunstexpertin Amelia S. Levetus in einem Zeitungs-Artikel das „Moderne Wiener Spielzeug“, wobei sie auch Hollmann erwähnte.[13]
Am 26. Mai 1907 heiratete Johanna Hollmann in Wien den „Buchbinder- und Handvergoldergesellen“ Karl Poller.[14] Sie firmierte bis zum Tod ihres Gatten fortan unter dem Doppelnamen Poller-Hollmann.
Bei der großen Wiener Kunstschau 1908 war sie im „Kunst für das Kind“ gewidmeten Raum 29 mit „Bemalten Holzfiguren“ vertreten.[15] In der Kunstgewerbeausstellung 1909–1910 im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie zeigte sie im Rahmen der Initiative „Wiener Kunst im Hause“ 16 von ihr entworfene Bucheinbände, teilweise mit Handvergoldung, alle wohl von ihrem Mann gefertigt.[16] Im Salzburger Gewerbemuseum präsentierte sie 1910 Leder- und Treibarbeiten.[17] In der „Ausstellung Österreichischer Kunstgewerbe 1910–1911“ im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie waren vierzehn Arbeiten von Karl Poller zu sehen, von denen drei auf Entwürfe seiner Frau Johanna zurückgingen.[18] In der Kunstgewerbeausstellung 1911–1912 präsentierte die Porzellan-Manufaktur Josef Böck ein Speiseservice „mit blauer Blätterbordüre mit Mattgoldpunkten“ nach dem Entwurf von Johanna Poller-Hollmann.[19] In der Frühjahrsausstellung 1912 präsentierte Josef Böck dann ein Frühstücksservice nach dem Entwurf von Johanna Poller-Hollmann mit einem Dekor von Emanuel Margold. In derselben Ausstellung zeigte die Textilfirma Herrburger & Rhomberg unter anderem eine Jaquardbettdecke nach Entwürfen von „Frau Poller-Hollmann“.[20]
Im Jahr 1914 begann Hollmann ihre Arbeit für die „Deutschen Werkstätten Hellerau“ in Dresden, für die sie zunächst Spielzeug entwarf. Im Jahr 1915 lebte sie gemeinsam mit ihrem Mann, der hier als Buchdrucker arbeitete, in Dresden,[21] wo auch der gemeinsame Sohn Karl am 26. April 1915 geboren wurde.[22]
In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ließ der Boom um die Künstlerinnen und Künstler der Wiener Kunstgewerbeschule deutlich nach. Frauen waren dabei, wie eben auch Johanna Hollmann, besonders betroffen. Es gab zu Beginn der Ersten Republik in Österreich ermutigende Signale der Emanzipation, so etwa das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen. Aber die Stimmung gegenüber Frauen hatte sich nicht wirklich verbessert. Frauenverachtende Kommentare von Adolf Loos, Karl Kraus oder Julius Klinger waren symptomatische Indikatoren für die missgünstige Stimmung bezüglich weiblicher Kreativität in dieser Zeit.[23] Gründe gibt es dafür einige, aber die Hauptmotivationen waren wohl ein durch den Krieg in Frage gestelltes Männlichkeits-Bild sowie ein Konkurrenzdenken unter den ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen der Zwischenkriegszeit. Da wurde manchen erst klar, dass Frauen eine künstlerische Ausbildung nicht absolviert hatten, um einem bürgerlichen Hobby zu frönen, sondern diese Ausbildung als Grundstein für einen Beruf gewählt hatten.
Zu den allgemein schlechten Bedingungen kam für Johanna Poller-Hollmann noch ein persönlicher Schicksalsschlag hinzu: Am 10. Jänner 1920 verstarb ihr Mann Karl Poller in Wien an Tuberkulose.[24] Am 5. Juni 1921 heiratete Johanna den aus Oberösterreich stammenden Zuckerbäcker Georg Ratzenböck, der 1930, erst vierzigjährig, verstarb.[25] Im Wiener Adressbuch wurde er nicht erwähnt, erst ab 1927 wurde Johanna Ratzenböck, wie sie sich fortan nannte, alleine als Porzellanmalerin im 12. Wiener Gemeindebezirk aufgelistet. Von 1936 bis 1941 führte sie die Berufsbezeichnung Malerin, im Jahr 1942 firmierte sie als Gemeindeangestellte.[26]
Mit 19. Jänner 1937 trat sie aus der katholischen Kirche aus,[27] offenbar, um zum evangelischen Glauben zu konvertieren. Am 8. August 1942 heiratete Johannas Sohn Karl in Liezen in der Steiermark. Einen weiteren schweren persönlichen Verlust erlitt die Künstlerin im Zweiten Weltkrieg durch den Tod Karls, der mit 30. März 1945 als vermisst gemeldet wurde.[28]
Laut Unterlagen des Stadtarchivs Liezen ist Johanna Ratzenböck von 1946 bis 1949 in Liezen nachweisbar. Sie lebte in diesen Jahren vom Bemalen von Holzbrettern und -tellern, die sie mit Alpenblumen und Sprüchen verzierte. Dazu der frühere Stadtarchivar Karl Hödl: „Anlässlich der Stadterhebung im Jahre 1947 bemalte sie hölzerne Schilder in der Größe 10 x 14 cm mit dem Stadtwappen und der Aufschrift ‚Stadt-Erhebung Liezen, 1947‘ und verkaufte diese an einem zu diesem Anlass aufgestellten Stand. Ute Wright geborene Mimra war ein Nachbarskind und schenkte dem Stadtarchiv im Jahre 2015 eines dieser Wappenschilder.“[29] Ob sich die damaligen Käuferinnen und Käufer bewusst waren, dass sie mit dem Souvenir die Arbeit einer Koloman Moser-Schülerin erwarben, die einst eine prominente Protagonistin der Wiener Kunst um 1900 gewesen war?
Johanna Ratzenböck verbrachte in der Folge – in offenbar wirtschaftlich prekären Verhältnissen – ihren Lebensabend in der neben Liezen gelegenen Gemeinde Wörschach. Am 9. März 1960 starb sie an einer Lungenentzündung im Spital in Rottenmann – und nicht in Liezen, wie in der wenigen über sie vorhandenen Literatur durchgehend falsch behauptet wird.[30]
Leider war es bis dato nicht möglich zu klären, in wessen Eigentum sich die Werknutzungsrechte von Johanna Hollmann derzeit befinden. Deshalb musste hier auf eine entsprechende Illustration des Beitrages verzichtet werden. Einen guten Eindruck ihrer Arbeit bekommt man jedoch über den Katalog des Museums für angewandte Kunst: https://sammlung.mak.at/de/artist/hollmann-johanna-marie_32108
Diesen Artikel zitieren:
Bernhard Denscher: Johanna Hollmann – eine Künstlerin der „Fläche“, in: Austrian Posters, 7.12.2024, https://www.austrianposters.at/2024/12/07/johanna-hollmann-eine-kuenstlerin-der-flaeche/ (Stand: TT.MM.JJJJ).
[1] Vgl. dazu den Ausstellungskatalog: Beyerle, Tulga – Němečková, Klára (Hrsg.): Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der Deutschen Werkstätten Hellerau. 1898 bis 1938, München 2018 sowie die „Initiative Forschungsprojekt UN/SEEN“, https://www.unseen-women.design/about (Stand: 26.11.2024).
[2] Taufbuch der Pfarre Wien-Gumpendorf 1883, Fol. 151.
[3] Lehmann’s Adreßbuch,1927ff.
[4] Die Fläche I, Wien [1902–1904]. S. 18, 19, 31, 56, 57, 138. 139, 142, 143, 173; Vgl. dazu auch: Denscher, Bernhard: Die Fläche und die Wiener Moderne, Wolkersdorf 2021.
[5] Jung-Wien. Ergebnisse aus der Wiener Kunstgewerbe-Schule, Darmstadt 1907.
[6] Das Interieur, 1903, S. 99; Neue Freie Presse, 18.4.1903, S. 2; Lux, Joseph Aug.: Die moderne Wohnung und ihre Ausstattung, Wien 1905, S. 122.
[7] Leisching, Eduard: Die Ausstellung der Kunstgewerbeschule des k.k. Österreichischen Museums, in: Kunst und Handwerk, 1903/5, S.179.
[8] Neues Wiener Tagblatt, 15.3.1904, S. 10.
[9] Wiener Zeitung, 24.12.1904, S. 17.
[10] Die Zeit, 21.5.1905, S. 5.
[11] Illustrirtes Wiener Extrablatt, 18.3.1906, S. 10.
[12] Tagespost, 25.11.1906, S. 1.
[13] Neue Freie Presse, 21.12.1906, S. 12.
[14] Trauungsbuch der Pfarre St. Othmar unter den Weißgerbern, Wien-Landstraße, 1905–07, Fol. 297.
[15] Katalog der Kunstschau Wien 1908, Wien 1908, S. 100.
[16] Ausstellung österreichischer Kunstgewerbe 1909–1910, Wien 1910, S. 214.
[17] Kunst und Kunsthandwerk, 1910/8/9, S. 539, Das Vaterland, 23.7.1910, S. 7.
[18] Ausstellung Österreichischer Kunstgewerbe 1910–1911, Wien 1911, S. 170f.
[19] Ausstellung Österreichischer Kunstgewerbe 1911–1912, Wien 1912, S. 33f.
[20] Frühjahrsausstellung österreichischer Kunstgewerbe verbunden mit einer Ausstellung der k.k. Kunstgewerbeschule 1912, Wien 1912, S. 23, 41.
[21] S[töver], K[erstin]: Johanna Hollmann, in: Beyerle, Tulga – Němečková, Klára (Hrsg.): Gegen die Unsichtbarkeit. Designerinnen der Deutschen Werkstätten Hellerau. 1898 bis 1938, München 2018, S. 196.
[22] Trauungsbuch der Pfarre St. Othmar unter den Weißgerbern, Wien-Landstraße, 1905–07, Fol. 297.
[23] Vgl. dazu: Breuer, Gerda: Aufbruch zur Professionalität. Kunstgewerblerinnen im Deutschen Museum für Kunst in Handel und Gewerbe, in: Holzhey, Magdalena – Ina Ewers-Schultz – Katia Baudin (Hrsg.): Die große Verführung. Karl Ernst Osthaus und die Anfänge der Konsumkultur, Köln 2023, S. 167f.
[24] Sterbebuch der Pfarre St. Elisabeth, Wien-Wieden 1920, Fol. 4.
[25] Trauungsbuch der Pfarre St. Josef, Wien-Margareten 1921, Fol. 114; Zu den Lebensdaten von Georg Ratzenböck: Hödl, Karl: Johanna Ratzenböck, Stadtarchiv Liezen, 12.3.2015, https://www.liezen.at/de/stadtarchiv (Stand: 26.11.2024).
[26] Lehmanns Adreßbuch, 1927–1942.
[27] Taufbuch der Pfarre Wien-Gumpendorf 1883, Fol. 151.
[28] Gefallene Weltkrieg II, Stadtarchiv Liezen, https://www.liezen.at/de/stadtarchiv (Stand: 26.11.2024).
[29] Hödl, Karl: Johanna Ratzenböck, Stadtarchiv Liezen, 12.3.2015, https://www.liezen.at/de/stadtarchiv (Stand: 26.11.2024).
[30] Totenbuch der Evangelischen Pfarrgemeinde A.B. Stainach-Irdning, 1960, S. 1.