Wie das Art déco zu seinem Namen kam, ist wohl wesentlich leichter zu erklären als die Stilrichtung selbst. Der Name leitet sich von der „Exposition internationale des Arts décoratifs et industriels modernes“ ab, die im Jahr 1925 in Paris stattfand und mit der eine endgültige Abkehr vom Art nouveau vollzogen worden war, aber auch eine Gegenposition zum nüchternen Funktionalismus jener Zeit eingenommen wurde. Das Neue, das man da präsentierte, war ein Konglomerat von verschiedenen modernen Stilrichtungen, die nicht so leicht in ein System zu bringen sind.
Auch der vor kurzem erschienene Band „The Art Deco Poster“ bringt keine Präzisierung – und dies trotz einer Einleitung des Art deco-Spezialisten Alastair Duncan: „Art deco graphic artists drew on many techniques introduced by avant-garde painting movements in the early years of the century to create a new grammar of decorative ornament.“ Duncan ortet dabei Einflüsse von Kubismus und italienischem Futurismus, von der niederländischen De Stijl-Bewegung sowie vom russischen Konstruktivismus und vergisst auch nicht auf die nachhaltige Ausstrahlung von Wiener Werkstätte, Deutschem Werkbund und Bauhaus hinzuweisen. Diese Weite des Begriffs, die in dem Buch auch in eine definitorische Beliebigkeit übergeht, macht zwar einen attraktiven Bildband möglich, hilft aber nicht wirklich, der Komplexität des Art décos näher zu kommen. Die Stilrichtung ist zwar als ein Konglomerat zu sehen, allerdings nicht in dieser Weise: Art déco war eine dekorative, oft ins Gefällige changierende Gegenbewegung zur strengen und formenreduzierten Moderne der Zwischenkriegszeit und damit auch eine Art Vorform der Postmoderne der 1980er Jahre.
William W. Crouse, der Autor von „The Art Deco Poster“, präsentiert in dem Band Teile seiner Plakatsammlung. Somit geht auch er von einem sehr weiten Begriff von Art déco aus und zeigt Hauptwerke des internationalen Grafikdesigns aus den Jahren von 1919 bis 1939. Ausgeschlossen hat der Autor bei seiner Auswahl – warum auch immer – Filmplakate, politische Plakate und Arbeiten aus Russland. Konzentriert hingegen hat er sich, und hier schlägt der Sammlerstolz allzu deutlich durch, auf die bekanntesten Beispiele dieser Epoche. Dies macht Neuentdeckungen kaum möglich – und in der Werbesprache des Klappentextes lautet das so: „William Crouse, long-time poster aficionado, has selected over 300 of the most sought-after examples of poster art created between the wars to include in this definitive volume.“
Das Ganze ergibt einen schönen Prachtband mit feinen Beispielen künstlerischen Plakatdesigns, bei dem Namen wie Roger Broders, George Massiot Brown, Cassandre, Edward McKnight Kauffer, Marcello Nizzoli oder Willy Petzold nicht fehlen, um nur einige besonders prominente Beispiele aus dieser Auswahl zu nennen. Dem Mainstream-Prinzip folgend kommen nahezu keine Künstler aus Österreich vor. Einzige Ausnahmen sind der „Klassiker“ von Joseph Binder für die „New York World’s Fair 1939“ und untypischer Weise eine Teewerbung aus dem Atelier von Otto Löbl aus dem Jahr 1930. Löbl selbst war kein Entwerfer, sondern gründete – nachdem er Prokurist im Atelier von Hans Neumann gewesen war – ein eigenes Werbestudio unter dem Namen „Otto Plakate“ und beschäftigte, wie das vorliegende Beispiel zeigt, immer wieder begabte und originelle DesignerInnen. Crouse weist in diesem Zusammenhang sogar auf ein von Hans Neumann gestaltetes Vorgängerplakat hin, auf dem bereits Jahre früher ein junger Strauß als Werbefigur für die Firma „Strauss & Engel“ agierte. Mangelnde Kombinationsgabe und fehlende Sprachkompetenz führen hier jedoch zu dem für Deutschsprechende komischen Erstaunen Crouses, wieso man da beharrlich mit einem Strauß geworben habe, der doch mit Tee „wenig“ zu tun habe: „Although it has little to do with tea, the image of an ostrich was first linked to the Victoria brand by the artist Hans Neumann around 1911, when he created a poster in which a baby ostrich inquisitively nods its wide-eyed head toward a steaming kettle of the hot beverage.“ Das Wiener Museum für angewandte Kunst datierte übrigens in seinem zu Hans Neumann erschienenen Ausstellungskatalog das erwähnte Plakat – so wie auch die Österreichische Nationalbibliothek – nicht mit 1911, sondern mit 1922, was auch wahrscheinlicher ist, weil Neumann von 1911 bis 1913 in Berlin tätig gewesen war.
Trotz derartiger kleinerer Mängel hat William W. Crouse mit „The Art Deco Poster“ einen beeindruckenden, ausführlich kommentierten und damit lesenswerten Band zur Plakatentwicklung in der Zwischenkriegszeit vorgelegt.
Crouse, William W.: The Art Deco Poster. Introduction by Alastair Duncan, London 2013.