Die Wienbibliothek ist als wissenschaftliche Bibliothek des Landes und der Stadt Wien neben der österreichischen Nationalbibliothek und der Universitätsbibliothek die dritte große geisteswissenschaftliche Bibliothek Wiens. Ihre Sammlungsschwerpunkte sind die Geschichte und die Kulturgeschichte Wiens, in weiterem Sinne Österreichs, bzw. der österreichisch-ungarischen Monarchie. Neben der Druckschriftensammlung gibt es eine bedeutende Handschriftensammlung, eine weltweit bekannte Musiksammlung und, als weitere wichtige Sondersammlung, die Plakatsammlung.
Ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Wienbibliothek fiel in das Jahr 1923: Am 27. Juni schickte der damalige Finanzstadtrat der Stadt Wien, Hugo Breitner, eine Mitteilung „an den Herrn Direktor der Städtischen Sammlungen“, in der er um Nachricht bat, „ob es in Wien eine Stelle gibt, welche eine planmäßige Plakatsammlung besitzt und dieselbe fortlaufend pflegt“. Der kulturell sehr engagierte Stadtrat erkannte, weitblickend wie kein anderer, zu dieser Zeit die Bedeutung einer solchen Sammlung, auch für die Zukunft, für die verschiedensten Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der weitere Wortlaut dieser Mitteilung ist, in Bezug auf die Maximen, nach denen in den darauf folgenden Jahren und bis heute hier Plakate gesammelt werden, eine gleichsam bis in die Gegenwart wirkende Anleitung für eine solche Sammeltätigkeit. Nach der Frage, ob eine derartige Sammlung bereits existiere, heißt es weiter: „Sollte dies nicht der Fall sein, so glaube ich, daß innerhalb einer noch abzusteckenden Grenze sich die Wiener Städtische Sammlung für dieses Gebiet interessieren könnte, da sich zweifellos die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse im Plakate widerspiegeln, gegenwärtig zum Teil auch bei den Bildplakaten die künstlerischen. Mit Rücksicht auf die nahezu einem Monopol gleichkommende Stellung der Gemeinde in der Plakatankündigung würde die Erlangung des Materials wohl keine Schwierigkeiten bereiten“.
Breitner stellte damit kurz und prägnant fest, welch immense Bedeutung eine Plakatsammlung für die Dokumentation der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung einer Stadt oder eines Landes hat. Der Direktion der Städtischen Sammlungen (bestehend aus Bibliothek und Historischem Museum der Stadt Wien) war diese Bedeutung ebenfalls durchaus klar gewesen, man hatte daher, wenn auch in geringem Umfang, politische und künstlerische Plakate aufbewahrt, und zwar Plakate, die der heutigen Vorstellung eines großflächigen Werbeanschlages entsprechen. Zu den frühesten Plakaten zählen ja Ankündigungen, die wegen ihres kleinen Formates zugleich als Handzettel galten: Artisten, Seiltänzer, Kunstreiter, Schausteller, Feuerwerker, die Direktion des Hetztheaters und andere warben so für ihre Veranstaltungen. Diese Kleinplakate wurden seit jeher in der Stadtbibliothek (nunmehr „Wienbibliothek“) gesammelt, ebenso die politischen Anschläge des Jahres 1848, die hier in einer Anzahl und Komplexität vorhanden sind, wie sie in kaum einer anderen Sammlung gefunden werden.
Nun, da der offizielle Sammlungsauftrag erteilt war, konnte und musste die Sammlung erweitert werden. Die Direktion beschloss daher, dass die Bibliothek von der Plakatierungsfirma „Gewista“, die den Großteil der öffentlichen Anschlagflächen in Wien betreute und auch heute noch betreut, affichierte Plakate in gewissen Zeitabständen übernehmen sollte. Vom ersten Augenblick an wurden also Plakate hier nicht nach künstlerischen Kriterien gesammelt, sondern sie sollten in jeder Beziehung die Geschichte und Kulturgeschichte so dokumentieren, wie sie an den öffentlichen Ankündigungsflächen oder Hausmauern erschienen. Plakate haben als Repräsentanten der Kultur und Geschichte unserer Gesellschaft eine ganz enorme Bedeutung. Diese Repräsentanz als historische und kulturgeschichtliche Quelle aufzubewahren und zu erhalten ist überaus wichtig und mit der dienstlichen Anweisung, vermehrt zu sammeln, konnten die damals Verantwortlichen ihre sicher längst vorhandene Absicht, auch diesem Bereich der Buchdruckerkunst Aufmerksamkeit zu schenken und Sammlungen anzulegen, auf breiter Basis weiterverfolgen.
Man machte sich nun auch Gedanken über eine Gliederung dieser zwar rudimentär vorhandenen, aber doch teilweise neu zu ordnenden, beziehungsweise anzulegenden Sammlung. Um ein doppeltes Sammeln zu vermeiden, sollten die künstlerischen Plakate von der Bibliothek dem Museum übergeben werden. Die mühsame Unterscheidung in „künstlerisch wertvolle“ und „alltägliche“ Plakate musste vorgenommen werden, um die Plakate zwischen Bibliothek und Museum, die in den Städtischen Sammlungen zusammengefasst waren, aufzuteilen; als Kriterium für die Sammlungswürdigkeit bestimmter Objekte galt sie nie und ist auch sicher schwierig zu bewerkstelligen. Rückblickend kann festgestellt werden, dass die Trennung in „Kunstwerke, die für das Museum in Betracht kommen“ und „normale“ Plakate, die in der Bibliothek verbleiben sollten, sehr problematisch war. Wir fragten und fragen heute noch nach der gesellschaftspolitischen Aussagekraft der Plakate, mögen sie von bekannten Künstlern entworfen oder anonym sein. Diese Anschauung war immer da, insbesondere nach der Teilung der Städtischen Sammlungen in Bibliothek und Historisches Museum, im Zuge derer die sogenannten Künstlerplakate beim Museum verblieben. In der Rückschau auf vergangene Jahrzehnte ist die Bestimmung, ob ein Objekt künstlerisch wertvoll sei oder nicht, viel einfacher als zur Zeit des Erscheinens. So etwa wurden manche Secessionsplakate in ihrer ursprünglichen Fassung verboten; und gerade diese Exemplare gehören heute zum wertvollsten Bestand der Wiener Museen.
Die ursprünglich beabsichtigte Trennung in Bild- und reine Schriftplakate ist anscheinend nie durchgeführt worden, da sie das jeweilige Nebeneinander zweier gleicher Konvolute bedeutet hätte und daher praktisch nicht möglich ist. Um nun möglichst breit gefächert sammeln zu können, ging annähernd gleichzeitig mit dem Vorschlag einer Systematik ein Schreiben an die Plakatierungsfirma „Gewista“, den Städtischen Sammlungen „alle jene Plakate überlassen zu wollen, welche auf Wien Bezug haben und nachfolgende Gebiete umfassen: 1.) Alle Wahlplakate (Bild- und Schriftplakate), 2.) Rein künstlerische Bildplakate, 3.) Plakate, welche Ansichten von Wiener Häusern, Plätzen etc. zeigen, 4.) Plakate von Ausstellungen (Kleingartenausstellung, Kunstvereine, Wiener Messe).“
Da seit dem Jahre 1930 ein sprunghaftes Ansteigen des Plakatzuwachses erkennbar ist, dürfte man hier, wenn überhaupt, nur wenige Objekte ausgeschieden haben. Wahrscheinlicher ist es, dass nun, weil im Augenblick des Erscheinens eines Plakates kaum eine Wertigkeitsskala erstellt werden kann, weitgehend alle Neuzugänge archiviert wurden. Diese einzigartige Vorgangsweise, die Neuzugänge nicht zu werten und auszusortieren, wird unseres Wissens in keiner anderen Plakatsammlung einer österreichischen Bibliothek gepflegt. Heute wird keine derartige Unterscheidung getroffen, im Gegenteil, nicht nur die von der „Gewista“ affichierten Plakate, sondern auch – so weit möglich – jene von anderen Plakatierungsfirmen, von kulturellen und politischen Gruppierungen oder auch von Firmen direkt abgeholte oder geschickte Plakate, werden in die Sammlung aufgenommen, im Bewusstsein, dass diese Tätigkeit mithilft, die politische, gesellschaftliche, soziale und kulturhistorische Situation einer Epoche, insbesondere aber das Alltagsleben, zu dokumentieren. Auch gelingt es immer wieder, Plakate als Legate aus Nachlässen oder aufgelösten Firmenarchiven zu erwerben. So zählen heute zu den Hauptgruppen der Plakatsammlung der Wienbibliothek: politische Plakate seit dem Ersten Weltkrieg – die Plakate des Jahres 1848 wurden inzwischen aus verwaltungstechnischen Gründen als Liegeformate in die Druckschriftensammlung eingegliedert -, die Plakate von Ausstellungen seit etwa 1924 (derartige Plakate früherer Zeiträume befinden sich nun im Wienmuseum), Ankündigungen von Veranstaltungen der verschiedensten Art, von Tanzveranstaltungen bis hin zu Tierschutztagen und Blasmusikfestivals. Wichtige Gruppen sind die vielen Wiener Theater und Etablissements, vom „Apollo“ bis zur „Ronacherbühne“, die dem Theater, Varieté, Kabarett und anderen Zweigen der Kleinkunst zuzuordnen sind. Eine der umfangreichsten Gruppen innerhalb des Gesamtbestandes ist die Sammlung von Produktwerbung. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die rund 9000 Objekte umfassende Sammlung von Filmplakaten, aber auch die Gruppen Fremdenverkehr, Sport, Geld- und Kreditwesen, Erwachsenenbildung etc. werden so komplett wie möglich weitergesammelt.
Plakate dienen also nicht als Kunstobjekt, das wie eine kostbare (und kostspielige) Originalgrafik behandelt wird, sondern werden als Gebrauchsgut betrachtet, das ungemein klare und wertvolle Einblicke in die Geschichte und Kulturgeschichte gewährt. Auf Grund dieser Einstellung sind der Wienbibliothek alle Plakate in ihren Beständen gleich wertvoll, ob es sich um das Werk eines anerkannten Künstlers handelt oder um die anonyme Ankündigung einer neuen Schuhcreme: Alle Objekte werden behutsam und sorgfältig archiviert und so gut wie möglich der Nachwelt überliefert. Das oft für den Erhaltungszustand eines Plakates im Moment nicht relevante verfrühte Aufziehen auf Leinwand oder Japanpapier unterbleibt, nur unbedingt notwendige Restaurierungsarbeiten, die für die komplette Erhaltung der Objekte nötig sind, werden vorgenommen, da die Erfahrung gelehrt hat, dass jeder Eingriff in die Papiersubstanz, möge er nach dem letzten Stand der Wissenschaft auch noch so schonend sein, einen gewissen, im Moment nicht abschätzbaren Einfluss auf diese hat, und nie wirklich spurlos rückgängig gemacht werden kann, falls sich andere Erkenntnisse ergeben.
Immer wieder werden Mitglieder der Wienbibliothek gefragt, warum denn überhaupt Plakate der verschiedensten Gebiete gesammelt werden. In den vergangenen Jahren hat sich bestätigt, was seinerzeit in vorausschauender Weise vermutet wurde: Aus der Vielfalt der politischen Plakate, der Ankündigungen aus den Gebieten der Produktwerbung, der Kultur der Unterhaltung, des Sports, des Fremdenverkehrs bis hin zu Demonstrationen kann die Geschichte Wiens sehr eindrucksvoll abgelesen werden.
Als Faustregel für die Sammelgültigkeit gilt: „Alles sammeln, was jemals in Wien affichiert wurde und wird“. Diese Richtlinie stößt eigentlich auch stets auf Verständnis, da die Wienbibliothek die Archivierung übernimmt; viele Firmen halten keine Archive und greifen zu gegebenem Anlass gerne auf die Bestände der Bibliothek zurück. Die Wienbibliothek beteiligt sich an den verschiedensten Projekten im In- und Ausland, da durch die Eigenart der Bestände hier wie fast kaum in einer anderen großen Sammlung Anschauungs- und Bildmaterial für alle Zwecke gefunden wird.
Aktualisierte und überarbeitete Fassung des 1994 erstmals erschienenen Artikels: Barth, Gerda: Die Plakatsammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, in: PlakatJournal 1994/2, S. 3ff.
Der Autorin und den Herausgebern von PlakatJournal, René Grohnert und Jörg Weigelt, wird für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieses Beitrages in deutscher und englischer Sprache gedankt.