Natürlich ist dieses Nachschlagewerk längst überfällig. Aber schon beim ersten Durchblättern wird einem klar, warum es so lange gedauert hat, bis jemand diese Arbeit – nämlich die Geschichte des Grafikdesigns aufzuschreiben – in Angriff genommen hat. Gilt es doch, eine Überfülle von optischen Eindrücken zuerst einmal darzustellen, dann zu beschreiben und einzuordnen. Für diese Aufgabe scheinen die Bücher des Taschen-Verlages prädestiniert zu sein. Allein deren Ausmaß – das sich daraus ergebende entsprechende Gewicht muss in Kauf genommen werden und ist schon lange kein Thema mehr – bietet die Möglichkeit, all das, was gezeigt werden muss, aufzunehmen. Zwei Fachleute teilen sich die Herausgeberschaft dieser – übrigens in den drei Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch gehaltenen – Geschichte des Grafikdesigns, und zwar der schon mit mehreren einschlägigen Preisen ausgezeichnete und in Düsseldorf und Dortmund auch lehrende Jens Müller und Julius Wiedemann, der beim Taschen Verlag für Design und Popkultur zuständig ist und mittlerweile in den 15 Jahren seiner Tätigkeit mehr als fünfzig Bücher herausgegeben hat.
Wie legen sie‘s an? Müller eröffnet mit einer visuellen Geschichte, gibt darin einen knappen, gerafften Überblick über das Buch und eröffnet die diversen Möglichkeiten, es anzusehen: stilistisch, designhistorisch oder zeitgeschichtlich. Unter den 2.500 gezeigten, wegweisenden Grafiken findet man Bekanntes und Vergessenes. „Die Kenntnis des Metiers ist außerhalb der Szene nicht besonders ausgeprägt“, muss Müller feststellen und so ist es passend, dass er Alltagsgrafik genauso zeigt wie Prämiertes und in Museen Ausgestelltes. Er erläutert die Anfänge des Grafikdesigns, beschreibt dessen Aufgaben und macht auf die enge Verbindung mit der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung aufmerksam, weiß von kompromisslos arbeitenden Avantgardisten und „rein kommerziell getriebenen Kreativdienstleistern“, legt besonderes Augenmerk auf die Beziehung zwischen Design und Zeitgeschichte. Ganz am Ende seiner Ausführungen steht ein Satz, der aufhorchen lässt, nämlich „Gestaltung mit Haltung“, weil nämlich „visuelle Kommunikation gleichermaßen für die gute wie für die schlechte Sache genutzt werden kann!“ Dieser Aussage gegenübergestellt ist ein US-amerikanisches Poster aus dem Jahr 1942, auf dem eine in flammendes rot getauchte Fliegerabwehrkanone in den strahlend blauen Himmel zeigt und darüber der Slogan „Don´t Let Him Down!“ zu lesen ist.
Der Typografie-Experte David Jury aus Cambridge gibt dann einen knappen Abriss der Vorgeschichte des Grafikdesigns, kommt auf Buchdruck und Kupferstich zu sprechen und beschreibt die Geschichte der Akzidenzdrucker als Vorläufer der heutigen Grafikdesigner. Nach diesen theoretisch-erhellenden einleitenden Kapiteln folgen jeweils ein Jahrzehnt zusammenfassende chronologische Überblicke von 1890 bis 1959, siebzig Jahre Designgeschichte, also vom 19. Jahrhundert bis zum Wirtschaftswunder. Eingeleitet wird jedes Jahrzehnt mit einem Aufsatz, der auf die ganz besonderen Ereignisse auf dem Gebiet des Grafikdesigns hinweist, beginnend mit dem „Urknall“, der Farblithografie, die zum Durchbruch der farbigen Plakate geführt hatte, bis eben in die ausgehenden 1950er Jahre, hin zum Fernsehen als Massenmedium, aber auch dem Auftreten einer jungen Gestaltergeneration in Polen. Die darauf folgenden Doppelseiten mit 90 bis 100 kleinen Abbildungen bieten einen Kurzabriss der Design-Zeitgeschichte des jeweiligen Jahrzehnts, dargestellt durch Plakate, Firmenlogos, Porträts, Buchtitel, Fotos und Zeichnungen. Dann aber zeigt der Verlag, wo seine besonderen Fähigkeiten liegen, nämlich im Darstellen von Bildern, im Bändigen einer Flut von Illustrationen. Auf knapp fünfhundert Seiten wird das hergezeigt, was in 70 Jahren kreativer Tätigkeit von herausragenden Künstlern geschaffen worden ist. 61 dieser besonders innovativen Köpfe werden in Kurzaufsätzen genauso beschrieben, wie bemerkenswerte einschlägige Erfindungen, Firmengründungen, Zeitschriften und Kunstvereinigungen.
Da ist unter anderem von der Wiener Werkstätte die Rede und von der Zeitschrift „Jugend“, vom Futuristischen Manifest und auch der Fotografie, die in diesem Zusammenhang schon Mitte der 1920er Jahre anzutreffen war, dann aber erst wieder in den 1950er Jahren intensiv eingesetzt wurde. Wenn man das alles, die durchaus notwendigen und erläuternden Informationen hinter sich gelassen hat, dann kann man sich dem Zauber dieser Bilder hingeben, denn: die sind ja von Fachleuten mit allen Mitteln ihrer Kunst gemacht dafür, dass man gezwungen wird, hinzusehen. Es wird im Auge des Betrachters liegen, mit welchen Gefühlen er sich diese Zeugnisse aus längst vergangenen Jahrzehnten ansieht: nostalgisch sich an Ikonen aus früheren Tagen erinnernd, bedauernd über den Verlust von so viel Schönheit. Wie auch immer, es ist gut, dass all diese Bilder in diesem Buch zusammengefasst sind, immer wieder betrachtet werden können und dass nach dem ersten überwältigenden Eindruck in Ruhe geblättert, gelesen und geschaut werden kann.
Ein zweiter Teil wird übrigens vom Verlag schon angekündigt.
Müller, Jens – Julius Wiedemann (Ed.): The History of Graphic Design, Vol. 1, 1890–1959, Taschen Verlag, Köln 2017.