Der 12. November 1918 nimmt als Tag der Ausrufung der Republik Österreich in den Geschichtsbüchern des Landes einen besonderen Platz ein. Der Tag davor ist jedoch aus österreichischer Sicht nicht minder bedeutungsvoll, international gesehen ist er sogar wesentlich wichtiger. Denn an jenem 11. November 1918 wurde im Wald von Compiègne, nördlich von Paris, der Waffenstillstand zwischen Deutschland und den Mächten der Entente unterzeichnet. Zwei Tage vorher hatte der deutsche Kaiser Wilhelm II. abgedankt.
In Wien war in jenen Tagen die notorisch schlechte Versorgungslage noch prekärer geworden, und am 11. November 1918 berichteten die Zeitungen über weitere Kürzungen der ohnehin knappen Fleischrationen. Der Theaterbetrieb in der Hauptstadt hingegen lief scheinbar von allem unbeeindruckt: Das „Deutsche Volkstheater“ spielte am 11. November Schillers „Die Räuber“, im „Raimundtheater“ stand an jenem Tag „Das Dreimäderlhaus“ auf dem Programm, und „Das neue Wiener Stadttheater“ fand seine Antwort auf das Weltgeschehen, indem es „Der Kongress tanzt“ gab.
Um 10 Uhr vormittags trat der Staatsrat unter Vorsitz des der Christlichsozialen Partei angehörenden Prälaten Johann Hauser zusammen. Der sozialdemokratische Staatskanzler Karl Renner legte dabei den Gesetzesentwurf für die Ausrufung der „Republik Deutschösterreich“ vor. Um die Mittagzeit verstarb der legendäre Führer der österreichischen Sozialdemokratie und damalige Staatssekretär für Äußeres Victor Adler. Zur selben Zeit wurde mit Kaiser Karl über die Veröffentlichung seines letzten Manifestes an „seine Völker“ verhandelt.
Wenige Tage war es erst her gewesen, dass es „unter dem Ehrenschutz seiner kaiserlichen und königlichen apostolischen Majestät Kaiser Karl I.“ mit dem „Kriegsgräbertag“ ein besonders trauriges Totengedenken gegeben hatte. Am 6. November verlautbarte das Kriegsministerium die offiziellen Zahlen über die österreichischen Kriegsopfer: Demnach waren 1,2 Millionen Soldaten gefallen, und mehr als 3.8 Millionen waren als verwundet, gefangen oder vermisst verzeichnet. Nun, am 11. November, ging es jedoch darum, die Monarchie selbst zu Grabe zu tragen.
Um zirka 15 Uhr unterzeichnete Kaiser Karl schließlich im Schloss Schönbrunn jenes Manifest, das keine Abdankung im formellen Sinn, sondern lediglich einen Verzicht auf „jeden Anteil an den Staatsgeschäften“ vonseiten Karls enthielt. Doch schon während dieser Zeremonie wurde die Erklärung in der österreichischen Staatsdruckerei als Sonderausgabe der amtlichen „Wiener Zeitung“ und in Form eines Plakates gedruckt. Am Abend verließ Karl mit seiner Familie das Schloss Schönbrunn und begab sich in das östlich von Wien gelegene Schloss Eckartsau im Marchfeld. Von dort schrieb er später an den Wiener Erzbischof Kardinal Friedrich Gustav Piffl, dass er sich weiterhin als „rechtmäßiger Herrscher Deutsch-Österreichs“ sehe: „Die jetzige Regierung ist eine Revolutionsregierung, da sie die von Gott eingesetzte Staatsgewalt beseitigt hat. Mein Manifest vom 11. November möchte ich mit einem Scheck vergleichen, welchen mit vielen tausend Kronen auszufüllen uns ein Straßenräuber mit vorgehaltenem Revolver zwingt.“
Die Haltung Karls widersprach fundamental den Vorstellungen einer demokratischen Republik und hat damit in den folgenden Jahrzehnten wohl wesentlich zum gespannten Verhältnis des offiziellen Österreichs zu den Habsburgern beigetragen.
Literatur:
Scheidl, Hans Werner: „Abdanken? Nie – nie – nie!“, in: Die Presse, 8.11.2008
Denscher, Bernhard: Gold gab ich für Eisen. Österreichische Kriegsplakate 1914 – 1918, Wien 1987.
Denscher, Bernhard: „Ueberall vor den Plakaten bildeten sich Ansammlungen…“, in: Pfoser, Alfred – Andreas Weigl (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, S. 494ff.