Eliten misstrauten und misstrauen der Masse, sie verachten sie, und sind bestrebt, sie zu lenken und zu manipulieren. Der erste große und nachhaltige Auftritt der Masse im Zuge der Französischen Revolution hat die herrschenden Eliten wohl bis heute existenziell verunsichert. „Die Masse hat keinen guten Leumund“, konstatieren Niels Penke und Matthias Schaffrick in ihrem jüngst erschienenen Lehr- und Lernbuch zum Thema „Populäre Kulturen“.
Die beiden Literaturwissenschafter Penke und Schaffrick geben in prägnanter Weise einen interessanten historischen Überblick über die verschiedenen Zugänge zum „Populären“ von den Anfängen des 19. Jahrhunderts über die Popästhetik des 20. Jahrhunderts bis zum Populismus unserer Tage.
Bald nach 1800, so konstatieren die beiden Autoren, begannen sich Theoretiker mit dem Phänomen der Masse auseinanderzusetzen. Der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi war einer der ersten im deutschen Sprachraum, der sich mit dem Thema beschäftigte und damit sehr früh den Antagonismus von „Massenkultur“ und „Individual-Kultur“ betonte. 1823 schrieb er: „Die Massakultur (!), und mit ihr die wesentlichen Formen und Gestaltungen des gesellschaftlichen Zustands gehen unwidersprechlich überwiegend von den Ansprüchen unsers Fleisches und unsers Blutes aus. Die Individual-Kultur und die wesentlichen Bedürfnisse unserer sittlichen und geistigen Veredelung, so wie unseres häuslichen Lebens und Wohlstands gehen überwiegend von den Ansprüchen unsers innern, höhern und göttlichen Wesens aus.“
Diese Polarität von „animalischen Bedürfnissen“ der Massenkultur und dem göttlichen Wesen des auserlesenen Individuums sollte von da an – in unterschiedlichen Ausformungen – bestimmend für die entsprechenden Diskurse sein.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte der französische Militärarzt und Publizist Gustav Le Bon seine kulturpessimistische Schrift „Die Psychologie der Massen“. Darin beschrieb er die aufkommende Macht der Masse als Bedrohung für eine höherstehende, elitäre Kultur.
Der spanische Philosoph Ortega y Gasset vertrat in seinem 1930 erschienenen Buch „Der Aufstand der Massen“ ebenfalls die Ansicht, dass von der Masse viel Unheil ausgehe. Pencke/Schaffrick bringen es auf den Punkt: „Hinter dem von ihm beschriebenen ‚Aufstand‘ der Massen steht die drohende Ablösung gesellschaftlich vorherrschender Eliten durch die Egalisierung aller (männlichen) Bürger im Zeichen des allgemeinen Wahlrechts, das die Bildung neuer Mehrheiten dort ermöglicht, wo ehedem nur zwischen verschiedenen von oben zur Abstimmung vorgelegten Programmen entschieden wurde.“
Walter Benjamin sah die Hauptgefahr nicht in der Masse selbst, sondern in falschen Führern, die gerade Mitte der 1930er Jahre in der Welt im Übermaß vorhanden waren. In seinem legendären Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ diagnostizierte der Philosoph einen Grundwandel in der künstlerischen Rezeption. Durch die massenmedialen Möglichkeiten, habe das Kunstwerk, nach Walter Benjamin, das Geheimnis seiner mythischen Herkunft und damit seine „Aura“ verloren. Die Demokratisierung der Medien machte aus der Kunst ein Kunstprodukt.
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vertraten auch als Linke den Kunstbegriff eines elitären Bürgertums, das die medialen Neuerungen als existenzielle Infragestellung ihrer kulturellen Distinktion betrachtete. In ihrer gemeinsam verfassten „Dialektik der Aufklärung“ prägten sie den Begriff der „Kulturindustrie“ als ein aufgrund seines implizit kommerziellen Aspekts absolut negatives Phänomen. Adorno und Horkheimer gaben darüber hinaus mit ihrer Parole „Vergnügtsein heißt Einverstandensein“ die nahezu religiöse Grundstimmung eines von ernster Bitterkeit geprägten Zugangs zur Elitenkultur vor. Pencke/Schaffrick zitieren in diesem Zusammenhang Adorno, der an anderer Stelle einmal meinte: „Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird, wie Horkheimer und ich es nannten, Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewußtseins.“
Unterhaltung – und da meinten Adorno und Horkheimer etwa auch die heute innerhalb des hochkulturellen Kanons gesehene Jazzmusik – war nach dieser Vorstellung keine allenfalls zu belächelnde Freizeitgestaltung, sondern Verrat an der Idee der Aufklärung.
Pencke/Schaffrick beziehen in ihre diesbezüglichen Erörterungen auch den Ansatz von Pierre Bourdieu mit ein. Der französische Soziologe ordnete in seiner wegweisenden Publikation „La distinction“ unterschiedlichem Kulturverhalten spezielle Lebensstile zu und analysiert so auch den „Ekel vor dem Leichten“ aus Sicht der „bürgerlichen Ethik und Ästhetik“.
Teile des Mittelstandes, soziale Aufsteiger, die es den Eliten gleichtun wollen, verachten im besonderen Maße ihresgleichen, sagen sich von den Wurzeln ihrer Kultur los und werden so die strengsten Hüter der „Hochkultur“. Oder, wie es Pierre Bourdieu ausdrückt: „Der Kleinbürger ist ganz Ergebenheit gegenüber der Kultur.“
Ein ausführliches Kapitel widmen die beiden Autoren dem Thema „Pop“ in allen seinen Facetten und Begriffsebenen. Sie zeichnen dabei den bemerkenswerten Distinktionsgewinn von Pop als trivialem Phänomen der Massengesellschaft zum selbstverständlichen Teil eines elitären Kulturbegriffs nach: „Denn bei allem, was Pop sein kann: Entertainment, Subkultur oder emanzipatorisches politisches Projekt (und selbst davon kann Pop stets auch das Gegenteil sein, nämlich Hochkultur, Mainstream, reaktionäre Politik), ist Pop an erster Stelle eine ästhetische Form, die sich reflexiv zur populären Kultur verhält.“
Penke, Niels – Matthias Schaffrick: Populäre Kulturen zur Einführung, Hamburg 2018.