Ist es bereits Zeit, eine Geschichte des Webdesigns zu schreiben? Ja, dreißig Jahre lieferten Material genug, um an diese Aufgabe heranzugehen, meinten Rob Ford und Julius Wiedemann, die Herausgeber des Buches „Web Design. The Evolution of the Digital World 1990–Today“. Ford ist Internet-Design-Pionier und Wiedemann hat im Taschen Verlag schon mehrere einschlägige Bücher („History of Information Graphics“, „Food and Drink Infographics“, „Geschichte des Grafikdesigns“ u.a.) herausgegeben. Er weiß, wie man Datenfluten bändigt, wie man Design-Geschichte optisch – auch als Lern-Maschine – aufbereitet.
Rob Ford beginnt seine Einleitung mit dem Satz, dass für unser Leben „Online“ zu sein genauso selbstverständlich wäre, wie zu atmen. Er will nun in diesem Buch, die Websites hervorheben, die seiner Meinung nach – seit 1991 – die Zukunft des Internets geprägt, Projekten den Weg geebnet und uns dorthin gebracht hätten, wo wir heute stünden. Er hätte dafür einen Fundus von 2.000 Websites zur Verfügung gehabt, da wäre das Buch dann 1.400 Seiten dick geworden, schreibt er. Die Buchgestalter einigten sich auf 1.500 Websites, sehr wohl wissend, dass jede Leserin, jeder Leser immer eine vermissen würde, die persönlich besonders interessant wäre. Das Buch ist so auch noch über 600 Seiten lang geworden, aber nur etwas über 3 cm dick.
Wie ist nun das Buch gestaltet? Die ersten Jahre, 1990–1997, werden noch eher überflogen, nicht ohne doch auch auf besonders hervorzuhebende Daten hinzuweisen, dass zum Beispiel 1992 das erste Foto im Web gepostet wurde. Ab 1998 ist dann jedem Jahr ein Kapitel gewidmet. Dieses enthält jeweils eine Einführung, die sich auf die Ereignisse des Jahres und auf die herausragenden Websites konzentriert, weiters Fakten, wie Anzahl der Internetnutzer und der Websites, Nachrichten aus aller Welt, Websites mit dem meisten Traffic, Hardware-, Software- und andere technische Neuigkeiten, höchste Filmeinspielergebnisse, 10 Websites, die besonders – mit einem Zitat des Webdesigners – hervorgehoben werden, mobile Evolution (Hervorhebung des wichtigsten Mobiltelefons des Jahres), wichtige Events der Community und schließlich eine Google-Faktenseite. Die jeweiligen Überschriften geben packend das Web-Geschehen des Jahres wieder: Das Jahr, in dem sich die Schleusen öffnen, in dem das Web lebendig wurde, das Jahr der Neuerungen, das Jahr der Ideen – bis hin zum Jahr 2016, als künstliche Intelligenz ins Web eintrat und 2017, in dem sich das Web aus dem Web heraus entwickelte. 2018 war das Jahr, in dem die neue Generation des Web-Designs startete. Einige Zahlen zur Entwicklung: 1998 gab es 147 Millionen Internet-Nutzer, das waren 3,6 % der Erdbevölkerung, und 2,5 Millionen Websites, Apple führte den iMac ein und der erfolgreichste Film war Armageddon. Zwanzig Jahre später, also 2018, gab es 4,02 Milliarden Internet-Nutzer, das waren 52.9 % der Erdbevölkerung, und 1,3 Milliarden Websites, Google war die Website mit dem meisten Traffic und Black Panther der meistgesehene Film. 2018 war es dann auch so weit, dass am häufigsten via Smartphones online gegangen wurde.
Den Buchgestaltern gelang es perfekt, die atemberaubende Geschwindigkeit, in der das Phänomen Web sich ausbreitete, sowohl mit einschlägigen Überschriften, als auch mit einer Flut von Bildern darzustellen. Beim Durchwühlen dieser Bilderflut trifft man aber auch auf ganz eigenartige, diese Flut negierende Experimente, wie z.B.: Croacia Audio: „Um die Idee an ihre Grenzen zu bringen, wurden auf der Website keine Bilder, Videos oder Texte gezeigt, sondern es waren nur akustische Antworten zu hören.“ Um beim Akustischen zu bleiben: Samsung entwickelte zu Beginn des Jahres 2018 eine App, mit der Stimme und Herzton der Mütter von Frühchen aufgenommen und dann den Kleinen im Inkubator vorgespielt werden können, so dass für diese gleich eine vertraute Atmosphäre entsteht.
„Web Design“ ist nicht „nur“ ein Bilderbuch, es ist mindestens genauso als Nachschlagewerk zu lesen. Auch wenn einem die unzähligen Fachausdrücke, die natürlich alle im Englischen bleiben, nicht gleich – sondern erst nach diversen Nachforschungen – ein Begriff sind. (Das Buch ist übrigens – wie alle TASCHEN-Bücher in diesem Segment – dreisprachig englisch, deutsch und französisch verfasst.) Das Auf und Ab diverser Errungenschaften wird festgehalten und auch diese Zeiten, in denen nicht das Vorwärtsdrängen hin zu unbegrenzten Möglichkeiten, sondern die Reflexion im Vordergrund stand. Zu bewundern ist, in wie viele virtuelle Räume sich Rob Ford begeben hat, um das zu erkunden, was ihm wert erschien, hervorgehoben zu werden. Man hat schon auch das Gefühl, dass der Spieltrieb nach wie vor einer der am stärksten – und durch das Web noch verstärkten – menschlichen Triebe sein muss. Sind es doch, so hat man beim Durchblättern den Eindruck, primär Spiele oder dem Spielen ähnliche Aktivitäten, die auf den diversen Websites angeregt werden. Und wo geht die Zukunft hin? Einerseits wird der Nostalgietrend der 1980er Jahre aufgenommen, andrerseits betritt man Bereiche physischer und erweiterter Wirklichkeiten.
Ford, Rob – (Ed.) Julius Wiedemann: Web Design. The Evolution of the Digital World 1990–Today, Taschen Verlag, Köln 2019.