Eine programmatische Veröffentlichung zum sogenannten „Wiener Stil“ war das zwischen 1902 und 1904 in Teilen erschienene Musterbuch „Die Fläche“. Die vom Direktor der Wiener Kunstgewerbeschule Felician Myrbach gemeinsam mit den Professoren Josef Hoffmann, Koloman Moser und Alfred Roller herausgegebene Publikation bot viele Beispiele moderner grafischer Gestaltung. Stammten die meisten Illustrationen von Studentinnen und Studenten, so präsentierte im Heft Nr. 8 die Generation der Lehrenden mit den abgebildeten Arbeiten ihre Vorstellungen von optimalem Plakatdesign. Die wenigen in der „Fläche“ enthaltenen Texte stammen vom Wiener Schriftsteller Joseph August Lux (1871–1947), der die Wiener Moderne publizistisch begleitete.
1910 und 1911 erschien jeweils ein Band der von Bertold Löffler herausgegebenen Fortsetzung als „Die Fläche II“.
Es liegt im Wesen des Plakats, daß es sich mitten im Verkehrsstrome dem Menschen entgegenstellt, die Aufmerksamkeit auch der Teilnahmslosesten, fesselt und jedem, auch dem Widerstrebenden einen Erinnerungswert mitgibt. Als Kind der Reklame sucht es natürlich nur die belebten Plätze auf. Wo nicht Zeit oder Möglichkeit ist zum stillen Kunstgenuß; es sucht zu wirken, wo viele Menschen sind, und will in der Schnelligkeit eines Augenblickes einen starken Eindruck hervorbringen. Denn es ist für den Augenblick geboren, im nächsten Moment ist es von hundert anderen Eindrücken verschlungen. Da ist es schon keine leichte Aufgabe, sich in dem Gedächtnis der hastenden Menge zu behaupten, gleichsam mit ihren gleitenden Blicken mitzueilen, den kurzen Inhalt haarscharf einzuprägen und andere Einwirkungen abzuwehren. Denn wo ein Plakat ist, sind viele, and das Bunterlei der Straße ist groß. Und das ist sein Sinn, daß es sich vordrängt, alles andere zu übertrumpfen sucht, und auf immer neuere, exzentrischere, unerhörtere Mittel verfällt. Mit ihm geht man nicht streng zu Gericht. Jede Ausgelassenheit, jede Frechheit, jede Bizarrerie ist ihm erlaubt oder verziehen, denn es steht damit unter dem Zwang einer Notwendigkeit, es kämpft damit um seine Existenz. Jeden Augenblick ist es neu, ist es anders, wechselt seine Erscheinungsformen mit der Hurtigkeit eines Fregoli[1].
Aus diesen seinen Lebensnotwendigkeiten ergeben sich seine künstlerischen Notwendigkeiten. Ehedem hat man, und das geschieht wohl auch heute noch, dem Plakat dadurch eine Anziehungskraft zu verleihen gesucht, daß man irgendwelche Bilder, namentlich Landschaften, die Gefallen erregen konnten, plakatmäßig reproduzierte, auch wenn sie zu dem eigentlichen Ankündigungsinhalt in keinerlei Beziehung standen. Die bildmäßige Wirkung eines solchen Plakats sollte auch das Wunder tun, nebenher den Gerstenkaffee oder die Schuhwichse, oder was sonst des Pudels Kern war, zur Geltung bringen. Und sie taten dieses Wunder, solange es keine andere Art von Plakaten gab.
Mögen die zu Plakatdiensten reproduzierten Bilder an und für sich noch so künstlerisch sein, als Plakat sind sie es nicht. Auch das Plakat hat seine Ästhetik, die verlangt, daß seine Form aus dem Ankündigungsinhalt geholt werde. Dieser Inhalt leiht den Stoff, und die Zeichnung gibt ihm den künstlerischen Ausdruck. Es gibt auf seine Art ein Symbol. Es erzählt nicht, es sucht keine eigentlichen malerischen Darstellungen, sondern wirkt als witziger Einfall, als eine Art große Bilderschrift, die in einem einzigen Aufleuchten den ganzen gewollten Inhalt offenbart. Es ist unter Umständen der Ausdruck einer glänzenden geistvollen Phantasie, die befähigt ist, mit raschem Erfassen all die kunterbunten Alltagserscheinungen in die entsprechende zeichnerische Form zu übertragen, und durch nie gesehene oder geahnte Gestaltungsmöglichkeiten zu fesseln, oder wie berühmte Karrikaturisten and Witzblattzeichner, die charakteristische Linie einer Person oder Sache, wenn auch übertrieben und überscharf, aber immerhin unumstößlich wahr und eindrucksvoll festzuhalten wissen. Daß heute auch hervorragend die Farbe beteiligt ist, die einfach und großflächig dasteht, bedarf kaum der Erwähnung. Es hängt damit zusammen, daß das Plakat vor allem als Fläche wirken soll. Für die Plakatkunst wirkt die Straße selbst als Lehrer. Unter dem Wust von albernen Affichen haben unsere Straßen im Laufe der letzten Jahre manches moderne Plakat von künstlerischem Wert aufzuweisen gehabt. Wir haben eine Reihe solcher der Vergänglichkeit ihres Straßendaseins und dem Vergessen entrissen, und sie in diesem Heft zusammengestellt, damit sie weiterhin Anregung geben. Mehr als alle Theorie wirkt das praktische Beispiel.
[1] Leopoldo Fregoli (1867–1926), italienischer Verwandlungskünstler (Anm. Red.)
Joseph August Lux: Das moderne Plakat, in: Die Fläche, 8. Heft, 1903 (Orthografie und Zeichensetzung entsprechen dem Original).
Weiterführende Literatur:
Bernhard Denscher: „Die Fläche“ und die Wiener Moderne / “Die Fläche” and Viennese Modernism, Wolkersdorf 2021. ISBN 978-3-200-08055-3.